Im Gastkommentar blicken MIT-Professor Daron Acemoglu und James A. Robinson von der Universität Chicago auf die Ursachen der Korruption in der Ukraine und was es braucht, um ein korruptes System zu ändern.

In der Euphorie unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hätte kaum jemand vermutet, dass die Ukraine – ein Industrieland mit gut ausgebildeter Erwerbsbevölkerung und enormen natürlichen Ressourcen – für die nächsten 28 Jahre eine Stagnation erleiden würde. Das benachbarte Polen, das 1991 ärmer war als die Ukraine, schaffte es, sein BIP pro Kopf (nach Kaufkraftparität) während der folgenden drei Jahrzehnte beinahe zu verdreifachen.

Die meisten Ukrainer wissen, warum sie abgehängt wurden: Ihr Land gehört zu den korruptesten weltweit. Doch entsteht Korruption nicht einfach so; die wahre Frage ist daher, wodurch sie verursacht wird.

Wie in anderen Sowjetrepubliken konzentrierte sich die Macht in der Ukraine lange Zeit in den Händen häufig vom Kreml ernannter kommunistischer Parteieliten. Doch war die ukrainische KP in hohem Maße ein Transplantat der russischen KP selbst und handelte regelmäßig zulasten der einheimischen Ukrainer.

Ständiger Machtkampf

Zudem wurde der Übergang der Ukraine weg vom Kommunismus wie in den meisten ehemaligen Sowjetrepubliken – mit der bemerkenswerten Ausnahme der baltischen Staaten – von den früheren kommunistischen Eliten angeführt, die sich selbst als nationalistische Führung neu erfunden hatten. Dies funktionierte nirgends gut. Doch im Fall der Ukraine wurde die Lage durch einen ständigen Machtkampf zwischen rivalisierenden kommunistischen Eliten und den von diesen mit hervorgebrachten und propagierten Oligarchen verschlimmert.

Aufgrund der Dominanz der verschiedenen einander bekriegenden Gruppierungen wurde die Ukraine von, so unsere Bezeichnung, wertabschöpfenden Institutionen vereinnahmt: gesellschaftlichen Strukturen, die ein eng begrenztes Segment der Gesellschaft stärken und dem Rest eine politische Stimme vorenthalten. Durch ständige Manipulation der Wettbewerbsbedingungen behindern diese Strukturen schon seit langem die für ein nachhaltiges Wachstum erforderlichen Investitionen und Innovationen.

Man kann Korruption nicht begreifen, ohne ihren umfassenderen institutionellen Kontext zu verstehen. Selbst wenn man in der Ukraine Schiebereien und Insichgeschäfte unter Kontrolle gebracht hätte, wären diese wertabschöpfenden Institutionen dem Wachstum trotzdem im Wege gestanden. So war das zum Beispiel auf Kuba, nachdem Fidel Castro die Macht übernahm und der Korruption des Vorgängerregimes einen Deckel aufsetzte, aber eine andere Art von wertabschöpfendem System schuf. Wie eine Sekundärinfektion verschärft Korruption die durch wertabschöpfende Institutionen hervorgerufenen Ineffizienzen. Und diese Infektion war in der Ukraine aufgrund des vollständigen Vertrauensverlusts in die Institutionen besonders bösartig.

Selbsterfüllende Prophezeiung

Moderne Gesellschaften stützen sich auf ein komplexes Netz von Institutionen, um Streitigkeiten zu entscheiden, Märkte zu regulieren und Ressourcen zuzuweisen. Ohne das Vertrauen der Bevölkerung können diese Institutionen ihre Funktion nicht ordnungsgemäß erfüllen. Wenn die Normalbürger erst einmal anzunehmen beginnen, dass Erfolg auf Beziehungen und Bestechung beruht, entwickelt sich diese Annahme zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Märkte werden manipuliert, Gerechtigkeit wird eine Sache von Absprachen, und die Politiker verkaufen sich an den Meistbietenden. Im Lauf der Zeit durchdringt diese "Kultur der Korruption" die Gesellschaft völlig. In der Ukraine sind selbst die Universitäten kompromittiert: Abschlüsse werden regelmäßig ver- und gekauft.

Obwohl die Korruption eher Symptom als Ursache der ukrainischen Probleme ist, muss die Kultur der Korruption ausgemerzt werden, bevor sich die Lage verbessern kann. Man könnte annehmen, dass dies einfach nur einen starken Staat erfordert, der über die Mittel verfügt, um korrupte Politiker und Geschäftsleute zu beseitigen. Leider ist die Sache nicht ganz so einfach. Wie die Kampagne zur Korruptionsbekämpfung des chinesischen Präsidenten Xi Jinping zeigt, entwickeln sich von der Regierung ausgehende Maßnahmen häufig zu Hexenjagden gegen deren politische Gegner statt zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Allgemeinen. Es versteht sich von selbst, dass eine derartige Doppelmoral keine besonders wirksame Methode ist, Vertrauen aufzubauen.

Robuste Zivilgesellschaft

Eine wirksame Korruptionsbekämpfung erfordert vielmehr die robuste Einbindung der Zivilgesellschaft. Ihr Erfolg ist von Transparenzverbesserungen, der Gewährleistung einer unabhängigen Justiz und der Befähigung der Normalbürger zum Rauswurf korrupter Politiker abhängig. Schließlich war das Besondere an Polens postkommunistischem Wandel nicht die wirksame Führung von oben oder die Einführung freier Märkte. Es war die unmittelbare Beteiligung der polnischen Gesellschaft am Aufbau der postkommunistischen Institutionen von unten nach oben.

Natürlich propagierten viele der westlichen Ökonomen, die nach dem Fall der Berliner Mauer in Warschau einfielen, eine von oben verhängte Marktliberalisierung. Doch resultierten diese frühen Runden westlicher "Schocktherapie" in weit verbreiteten Massenentlassungen und Konkursen, die eine auf breiter gesellschaftlicher Basis beruhende, von den Gewerkschaften angeführte Reaktion auslösten. Die Polen drängten auf die Straßen, und die Häufigkeit von Streiks nahm steil zu – von rund 215 im Jahr 1990 auf mehr als 6.000 im Jahr 1992 und mehr als 7.000 im Jahr 1993.

Vereinnahmter Wandel

Unter Missachtung der westlichen Experten leitete die polnische Regierung bei der von ihr verfolgten Politik eine Kehrtwende ein und konzentrierte sich stattdessen darauf, einen politischen Konsens über eine gemeinsame Reformvision zu schaffen. Die Gewerkschaften wurden mit an den Tisch geholt, dem staatlichen Sektor wurden zusätzliche Ressourcen zugewiesen, und es wurde eine neue progressive Einkommensteuer eingeführt. Es waren diese Reaktionen seitens der Regierung, die Vertrauen in die postkommunistischen Institutionen schufen. Und im Lauf der Zeit verhinderten diese Institutionen dann eine Vereinnahmung des Wandels und die Verbreitung und Normalisierung der Korruption durch Oligarchen und frühere kommunistische Eliten.

Im Gegensatz hierzu erlebte die Ukraine – wie auch Russland – die volle Dosis der "Privatisierung" und "Marktreformen" von oben. Ohne auch nur einen Anschein der Stärkung der Zivilgesellschaft zu erwecken, wurde der Wandel in vorhersehbarer Weise durch Oligarchen und die Überbleibsel des KGB vereinnahmt.

Symbolische Geste

Der neue ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Foto: APA / Herwig Höller

Ist eine gesellschaftsweite Mobilisierung in einem Land, das derart lange, wie das in der Ukraine der Fall war, unter korrupten Führern und wertabschöpfenden Institutionen gelitten hat, überhaupt noch möglich? Die verkürzte Antwort darauf lautet Ja. Die Ukraine hat, wie an der Orangen Revolution von 2004 bis 2005 und der Maidan-Revolution von 2014 erkennbar, eine junge, politisch engagierte Bevölkerung. Genauso wichtig ist, dass sich die ukrainische Bevölkerung der Tatsache bewusst ist, dass die Korruption ausgemerzt werden muss, um bessere Institutionen hervorzubringen. Ihr neuer Präsident Wolodymyr Selenskyj versprach im Wahlkampf, die Korruption zu bekämpfen, und erzielte einen Erdrutschsieg. Er muss nun den Reinigungsprozess anstoßen.

Die Versuche von US-Präsident Donald Trump, die Ukraine in seine eigenen korrupten Geschäfte hineinzuziehen, haben Selenskyj nun die perfekte Gelegenheit für eine symbolische Geste verschafft. Er sollte sich öffentlich weigern, mit den Amerikanern Geschäfte zu machen, bis diese ihre eigenen Korruptionsprobleme lösen – selbst wenn das bedeutet, kompromittierte Hilfsleistungen abzulehnen.

Schließlich sind die USA inzwischen eines der Länder, die der Ukraine am allerwenigsten Vorträge über Korruption halten sollten. Damit sie diese Rolle erneut spielen können, werden die amerikanischen Gerichte und Wähler klarstellen müssen, dass das Fehlverhalten der Trump-Regierung, ihre Angriffe auf demokratische Institutionen und ihre Verstöße gegen das Vertrauen der Bevölkerung keinen Bestand haben werden. Nur dann werden die USA ein Vorbild sein, dem nachzueifern sich lohnt. (Daron Acemoglu, James A. Robinson, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 14.11.2019)