Lewis Capaldi (23) versteht selbst nicht so recht, wie er so schnell berühmt werden konnte. Sein humorvolles Auftreten in sozialen Medien hat wohl geholfen – außerdem kann er Hits schreiben.

Foto: Alexandra Gavillet

Nehmen Sie ein Instrument ihrer Wahl, spielen Sie einen C-Dur-, G-Dur-, F-Dur- und a-Moll-Akkord (Reihenfolge nach Belieben!), und wenn Sie nach einer Stunde keinen Hit produziert haben, suchen Sie einen Arzt auf. Denn dann brauchen Sie dringend Hilfe.

Na gut, so einfach ist es vielleicht doch nicht, einen Evergreen zu fabrizieren. Dennoch setzen sich erschreckend viele erfolgreiche Popsongs aus diesen vier Akkorden zusammen; es kann also nicht ganz falsch sein, eine Song-Schreiber-Karriere so zu starten.

Aus dem Nichts an die Spitze

Dem jungen schottischen Singer-Songwriter Lewis Capaldi hat die Reihenfolge C-G-Am-F jedenfalls nicht geschadet, seine Powerballade Somebody You Loved steht gerade auf Platz eins der amerikanischen Billboard Charts, nachdem er bereits im März sieben Wochen lang die Spitze der UK Single Charts okkupierte.

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Irgendwo meint man Robbie Williams leise schluchzen zu hören, dessen vergebliche Bemühungen, es in Amerika zu schaffen, ja fast schon sprichwörtlich sind. Capaldi gelang’s im Handumdrehen, auch wenn er es etwas leichter gehabt haben wird – immerhin haben in jüngerer Zeit britische Superstars wie Adele und Ed Sheeran den Weg über den Großen Teich geebnet. Capaldi bezeichnet sich zwar scherzhaft als schottische Beyoncé, ist aber eher das, was rauskommt, wenn man Adeles und Sheerans beste Seiten miteinander paart (beziehungsweise weglässt, was an den beiden enervieren kann): Capaldi kommt ohne Adeles Hang zu Geigen und Sheerans peinliche Plattitüden aus. Die Songs auf seinem Debütalbum Divinely Uninspired to a Hellish Extent sind minimal instrumentiert. Mal gibt das Klavier, mal die Gitarre den Ton an, dazu Capaldis Emotionsgebrüll, das passend zum Höhepunkt noch mit einem Schlagzeug unterlegt wird. Das war’s dann auch im Großen und Ganzen . Eingängig bis zur Unumgehbarkeit ist das, weil man mit den zeitlosen Melodien schon so gut vertraut ist. Am liebsten hört man, was man bereits kennt.

Außergewöhnlich normal

Capaldi hat mit Adele und Sheeran aber auch den guten Schmäh und das „normale“ Auftreten gemein. Dass Capaldi noch etwas jünger ist, merkt man daran, dass er seinen Witzeleien vor allem auf sozialen Medien wie Twitter oder Instagram freien Lauf lässt und sich dort selbst überhaupt nicht ernst nimmt. Auch sein doch recht eigenwilliger Kleidungsstil lässt auf einen jungen Mann schließen, der zwanglos tut, was ihm gefällt. Das imponiert vielen, die mit den leutseligen und sympathisch schrulligen Normalos mehr anfangen können als mit den in die Form von Menschen gegossenen Pop-Perfektionen.

Capaldi ist viel eher die andere Seite einer Medaille, deren eine Billie Eilish ist. Auch wenn sich deren jeweilige Musik unterscheidet, haben die beiden Jungstars neben der Liebe zu verwunderlich langen Albennamen vieles gemeinsam. Beide sind Digital Natives, die ihre Pop-„personae“ in Eigenregie kreiert haben und mit dem Anspruch auf Authentizität sehr erfolgreich verkaufen. Außerdem sind sich beide der Schnelllebigkeit der Industrie bewusst und haben sich – besonnen, wie sie sind – sicher schon ein Sparkonto eingerichtet. Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll spielt’s da nicht – Capaldi bekommt schon Sodbrennen, wenn er zu pikant isst, wie er dem Guardian erzählte.

Singen im Pub gelernt

Bereits im Alter von zwei Jahren lernte der Schotte das Gitarrespielen, in seiner Jugend zog er singend durch die Pubs seiner Heimatstadt Bathgate. Entdeckt wurde er von seinem späteren Manager, weil er eine Handyaufnahme eines Songs auf Sound Cloud geladen hatte. 2017 veröffentliche er seine erste Single Bruises – dann sollte es quasi überhaupt nur noch gefühlte 15 Minuten zum globalen Fame dauern.

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An diese rasanten Karrieren, die aus dem Nichts kommen und früh Höhepunkte erreichen, wird man sich gewöhnen müssen. So scheint die Musikindustrie gerade zu funktionieren. Capaldi sei aber durchaus eine längere Verweildauer vergönnt. Sein Album kann sich durchaus hören lassen. Auch Elton John gab bereits seinen Sanktus: Er sieht in Capaldi den nächsten großen britischen Popstar. Elton muss es wissen. Can You Feel the Love Tonight hat er zwar in einer anderen Tonart geschrieben, der Refrain lässt sich beim Nachspielen aber super mit C-G-Am-F bewältigen. (Amira Ben Saoud, 14.11.2019)