Gertraud Klemm schreibt in ihrem jüngsten und vierten Roman über den Kunst- und Literaturbetrieb, zwei Frauenleben und kontroverse Männerbilder.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Das Vorhaben, irgendwann einmal ein Buch über eine ältere Frau und einen jüngeren Mann zu schreiben, das hat die Schriftstellerin Gertraud Klemm mit Hippocampus mehr als eingelöst.

Ihr neuer und vierter Roman handelt nicht nur von einer älteren Frau, sondern gleich von zwei: Elvira Katzenschlager ist die Freundin und einstige Weggefährtin der gerade verstorbenen Autorin Helene Schulze, die früher – und kurz erfolgreich – Teil einer feministischen Avantgarde war, dann aber von der Öffentlichkeit schnell vergessen wurde und jetzt posthum mit einem Spätwerk auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis gelandet ist.

Mit dieser literarischen Sensation und dem Hype darum ist Rainer, Helenes Ex-Mann und Vater ihrer gemeinsamen Kinder, aber überfordert. Elvira soll sich kümmern. Nicht mehr um die Freundin, die sich, so scheint es, als einsame und komische Alte in einem Haus auf dem Land aus Lebensfrust zu Tode gesoffen hat, sondern um den ganzen anderen Krempel, der jetzt ansteht: die Nachrufe, den Nachlass, kurz gesagt: Helene Schulzes Nachleben.

Feministisches Roadmovie

Dass der gesamte Klemm'sche Plot, der auf den Tod dieser älteren Schriftstellerin folgt, sich beim Lesen wie ein Spielfilm im Kopf abspult, liegt nicht nur an der Tatsache, dass der junge Adrian als männlicher Protagonist freischaffender Kameramann ist. Er soll die nicht unkomplizierte Alt-68erin Elvira für ein Fernsehinterview über die verstorbene Freundin gut ins Bild rücken. Fehlanzeige!

Aber aus dem missglückten Interview entsteht ein weiterer Arbeitsauftrag für Adrian, der sich plötzlich mitten in einem feministischen Roadmovie wiederfindet, gemeinsam mit der oft kratzbürstigen Elvira Katzenschlager in einem alten Bus unterwegs quer durch eine sehr österreichische Provinz.

Kaiserbad kommt vor, das unschwer als Baden bei Wien zu dechiffrieren ist, Linz und das Mühlviertel werden genannt, auch die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz und die Künstlerin Renate Bertlmann, deren Biografie vielleicht als Realvorlage für Klemms Helene Schulze gedient hat, Klagenfurt und der Bachmannpreis spielen eine böse Rolle, genau wie die alten Wiener Aktionisten.

Was darf am Ende stehen bleiben?

Klemms rebellischer Gesellschaftsroman dreht sich nicht nur um den Kunst- und Literaturbetrieb in all seinen durchschaubaren, oft armseligen Mechanismen. Es geht um viel mehr: Wut und Zorn, ein, eigentlich zwei Frauenleben und kontroverse Männerbilder, Sexismus und Patriarchat, Religion und Feminismus.

Darum, wie Lebensentwürfe damals ausgesehen haben und heute aussehen, woran sie scheitern und was am Ende stehen bleibt – bleiben darf. Elvira Katzenschlager und Adrian (er bleibt ohne Nachnamen) ziehen im Laufe des Romans gemeinsam zwölf Kunstaktionen durch, um das Leben der Helene Schulze, nein, nicht zu rächen, sondern wieder "sichtbar zu machen".

Alle anonym und im Zeichen des Seepferdchens (lat. Hippocampus, eine Gattung, wo übrigens die Männchen trächtig werden) und gut im Appendix des Buchs nachzulesen. Dieses ungleiche Paar ist in all seinen Konflikten und Annäherungen (Vorsicht, Spoileralarm!) und in seinen sehr unterschiedlichen Zugängen zum Leben eine von Klemm klug gewählte Schablone, vor der sich das gesamte Leben einer Künstlerin wie Helene Schulze komplex durchdeklinieren lässt.

Die kleine Schwäche des Romans, dass Klemm manches zu detailliert ausformuliert, ist gleichzeitig eine Stärke: Immerhin geht es um Themen, die endlich klar an- und ausgesprochen werden müssen. Was für ein Film! (Mia Eidlhuber, 15.11.2019)