STANDARD: Maßgeschneiderte Therapien, personalisierte Medizin – diese Schlagworte gibt es seit mehr als zehn Jahren. Wann wird das tatsächlich Realität?

Pieber: Die Idee der maßgeschneiderten Medizin kommt aus der Onkologie. Vor circa 15 Jahren erkannte man mit den neuen Hilfsmitteln der Genanalysen, dass bestimmte Krebsarten einander sehr ähneln, obwohl sie in unterschiedlichen Organen auftreten. Dickdarmkrebs und Lungenkrebs zum Beispiel. Gleichzeitig erkannte man aber auch, dass es viele unterschiedliche Arten einer Krebsform geben kann. Was man bis dahin pauschal Darmkrebs nannte, waren in Wirklichkeit viele unterschiedliche Erkrankungen in ein und demselben Organ. Diese Erkenntnisse veränderten das medizinische Denken radikal.

STANDARD: Inwiefern?

Pieber: Zum einen stellte diese Erkenntnis die Struktur des Medizinbetriebs infrage. Wir teilen die Fachgebiete nach Organen auf, doch der Körper hält sich offenbar nicht an diese Organgrenzen, zumindest bei Krebserkrankungen nicht. Zum anderen mussten wir feststellen, dass die damalige Praxis, jede Form von Krebs mehr oder weniger gleich mit Chemotherapie zu behandeln, auch nicht richtig sein kann. Und genau damals entstand die Vision der personalisierten Medizin. Weltweit wird daran gearbeitet. Die internationale Forschungsgemeinschaft konnte das Wissen erheblich erweitern.

STANDARD: Bedeutet das, jede Krebserkrankung ist höchst individuell und unvergleichlich?

Pieber: Ja, die Natur ist viel komplexer, als wir uns das vorgestellt haben. Die naive Hoffnung vor der Entschlüsselung des Genoms war, dass es einen Bauplan gibt, der für alle Menschen gleich ist. Wir mussten aber erkennen, dass die Art, wie das Genom ausgelesen wird, also wie schlussendlich auf Anweisungen der Gene Proteine gebildet werden, von vielen Umweltfaktoren abhängt. Nicht nur die Daten aus dem Genom waren wichtig, sondern auch jene aus dem Proteom, also der Gesamtheit der Proteine im Körper.

STANDARD: Warum?

Pieber: Weil das Genom keine starre Struktur ist und sich dynamisch an die Erfordernisse der Umwelt anpassen kann. Es nimmt Signale von außen auf, dadurch verändern sich Prozesse in der Proteinentstehung, es gibt Anpassung. Das ist ein hochdynamischer Prozess auf mehreren Ebenen, und genau der macht dann die Unterschiede zwischen den Menschen und damit auch ihrer Krankheiten aus. Jeder einzelne Mensch steht viel unmittelbarer mit der Umwelt in Kontakt, als man denken würde. Das versuchen wir mit den Omics-Technologien besser zu erfassen (siehe Wissen am Ende des Interviews).

STANDARD: Aber was bedeutet das für die Entstehung von Krebs?

Pieber: Krebszellen nutzen diese Interaktion mit der Umwelt. Aus biologischer Sicht ist eine Krebszelle eine Art Superzelle, die sich gegen alle anderen durchsetzt. Der Krebskranke ist für die Krebszelle also eine Art Wirt, den sie zum Zwecke ihrer Weiterentwicklung manipuliert. Die Krebszelle kann dieses Ziel auf mehreren Ebenen erreichen. Sie nützt zum Beispiel das Blutgefäßsystem, das Immunsystem und den Stoffwechsel für die eigenen Zwecke und schafft es, sämtliche körpereigenen Kontrollmechanismen zu umgehen. Aus Sicht der Krebszelle, die ja eine körpereigene Zelle ist, führt sie einen Überlebenskampf, es ist ein kleiner evolutionärer Prozess, der da stattfindet. Der Trieb zu überleben verdrängt gesunde Zellen und ebnet den Weg dafür, dass sich bösartiges Gewebe bildet.

Thomas Pieber weiß, wie wichtig globale Zusammenarbeit in der personalisierten Krebstherapie ist.
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STANDARD: Welche therapeutische Chance gibt es in diesem komplexen Prozess?

Pieber: Die Idee der Chemotherapie ist, die schnell wachsenden Zellen des Tumors zu stoppen. Die verabreichten Zellgifte beeinflussen jedoch den Zellteilungsprozess von gesunden wie krebskranken Zellen gleichermaßen, wenngleich die Krebszellen stärker reagieren, weil sie schneller wachsen. Leider ist dieser Ansatz oft nicht ausreichend, weil sich Resistenzen bilden, also die Medikamente nicht mehr wirken. Moderne Medizin bezieht auch das Immunsystem in den Krebsabwehrplan mit ein. Die Idee ist, die Immunzellen gezielt zu stärken, damit sie gegen die Krebszellen vorgehen können, das ist das Prinzip der Immuntherapien, die bei manchen Krebserkrankungen wirklich gut funktionieren.

STANDARD: Wie erkennen Mediziner, welche therapeutische Strategie erfolgversprechend ist?

Pieber: Genetische Analysen werden zu einem wichtigen Diagnoseinstrument in der Onkologie. Wir analysieren Gewebe, typisieren es und stellen es als Daten dar. Mithilfe künstlicher Intelligenz versuchen wir, Muster von Krankheitsentstehung zu erkennen.

STANDARD: Sie meinen Biomarker?

Pieber: Das ist ein Beispiel. Wir brauchen ein besseres Verständnis dafür, welcher Krebs auf welche Wirkstoffe reagiert. Das ist genau maßgeschneiderte, personalisierte Therapie. Einstweilen sind wir aber erst in der Phase der Beobachtung und des Datensammelns. Das ist eine enorme Herausforderung. Deshalb haben sich die Medizinischen Universitäten Wien und Graz gerade zu einer Kooperation namens CBmed zusammengeschlossen und Industriepartner an Bord geholt.

STANDARD: Wo genau liegt die Herausforderung?

Pieber: Die Analyse dieser vielen Patientendaten übersteigt die menschliche Gehirnkapazität bei weitem, deshalb geht es bei personalisierter Medizin darum, mit künstlicher Intelligenz den Erkenntnisprozess voranzutreiben. Gleichzeitig ist aber auch sicherzustellen, dass das daraus gewonnene Wissen für Patienten und Patientinnen geschützt ist.

Thomas Pieber ist Vorstand der Universitätsklinik für Innere Medizin, Leiter der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie und wissenschaftlicher Geschäftsführer des Center for Biomarker Research in Medicine (CBmed).
Foto: Pieber

STANDARD: Also werden eines Tages Computer Therapieentscheidungen treffen?

Pieber: Das sähe ich als große Gefahr. Bei aller Informationstechnologie in der Medizin sollte der Mensch stets als Person für den Arzt im Mittelpunkt stehen, gerade auch weil wir wissen, wie entscheidend die Umwelteinflüsse, die soziale Verankerung, die Lebensgewohnheiten für die Krankheitsentstehung sein können. Und all diese Faktoren kann derzeit kein Computersystem der Welt erfassen und ins Kalkül der Krankheitsentstehung miteinbeziehen. Weil es dann auch gälte, die zeitliche Dimension mitzuberücksichtigen.

STANDARD: Können Sie ein Beispiel geben?

Pieber: Stress kann positiv und negativ wirken. Es kommt auf die Dauer der Belastung an. Bei chronischer Belastung, so nehmen wir an, kann es Rückkopplungen mit den Genen geben.

STANDARD: Wird damit nicht auch die evidenzbasierte Medizin infrage gestellt? Bisher orientierte man sich bei Wirknachweisen von Medikamenten stets an einem Durchschnittswert.

Pieber: Wir sind in einem Umbruchprozess. Die bisherige Praxis, nach der ein Wirkstoff seine Effizienz durch Vergleiche mit einem anderen Wirkstoff beweisen musste, scheint vorbei zu sein. Es ist aufwendig, teuer und zudem schaffen wir es oft gar nicht mehr, die notwendigen Patientenzahlen für eine Krebsart zusammenzubekommen. Krebs splittet sich ja zunehmend in viele unterschiedliche Subgruppen, also in viele seltene Erkrankungen auf. Das erfordert ganz neue Arten der Zusammenarbeit, und zwar auf globaler Ebene.

STANDARD: Wie stellen Sie sich das vor?

Pieber: Denkbar wäre eine öffentlich zugängliche Datenbank, in die Patientendaten natürlich unter Wahrung sämtlicher Persönlichkeitsrechte eingespeist werden, um auf diese Weise ähnlich gelagerte Fälle, die irgendwo auf der Welt auftreten, erkennen zu können. Dann könnte man nachsehen, was bei diesen anderen Patienten gewirkt hat und was nicht.

STANDARD: Wer würde so eine öffentlich zugängliche Datenbank finanzieren?

Pieber: Genau das ist der Knackpunkt. Es geht um das Know-how über die Krankheitsentstehung und die Macht, die damit verbunden ist. Die großen IT-Konzerne wie Amazon oder Google sind längst dabei, gesundheitsrelevante Daten zu sammeln, sie expandieren in den Gesundheitsbereich. Umgekehrt entwickeln sich viele Pharmakonzerne zusehends zu IT-Unternehmen. Ich fände es bedenklich, wenn Konzerne, egal aus welcher Branche, plötzlich die Hoheit über therapeutische Entscheidungen bekämen, die für jeden Einzelnen von uns eines Tages lebensentscheidend sein könnten. (Karin Pollack, 16.11.2019)