Alles, was man bisher von Gigantopithecus weiß, deutet auf einen sanften Riesen hin, der Pflanzen fraß.
Illustration: Ikumi Kayama/Studio Kayama LLC

Seit im Jahr 1935 erstmals die Fossilien eines Gigantopithecus beschrieben wurden, hat der riesenhafte Primat die Fantasie von Wissenschaftern und Romanautoren gleichermaßen beflügelt. Die skurrilste Ausformung dieser Faszination ist vielleicht die fiktive Bezeichnung Gigantopithecus canadensis (also "kanadischer Riesenaffe"), die sich Kryptozoologen für – erraten – Bigfoot einfallen lassen haben.

Die Nummer 1

Anders als G. canadensis hat es mindestens drei Arten dieser Menschenaffengattung aber tatsächlich gegeben: G. bilaspurensis und G. giganteus, beide etwas kleiner als ein Mensch, und schließlich die eigentliche Attraktion: Gigantopithecus blacki. Der soll es auf eine halbe Tonne Gewicht und aufgerichtet auf drei Meter Körperhöhe gebracht haben, zumindest wenn man nach den großzügigeren Schätzungen geht.

Das macht ihn zum größten bekannten Primaten aller Zeiten. Doppelt so groß wie die Anwärter auf Platz 2, nämlich Gorillas und der Riesenlemur Archaeoindris, der bis vor einigen tausend Jahren auf Madagaskar lebte. Der südostasiatische Gigantopithecus hingegen ist schon vor spätestens 100.000 Jahren ausgestorben.

Weit vom Menschen entfernt

Wissenschafter interessierten sich vor allem für die Frage, wo der Hüne seinen Platz im Stammbaum der Menschenaffen hat. Dieser Begriff schließt die Gattung Mensch mit ein, und eine Hypothese lautete, dass Gigantopithecus eng mit den Australopithecinen verwandt gewesen sein könnte, also der Gruppe, aus der letztlich auch der Mensch hervorging.

Diese Hypothese wird durch eine aktuelle Studie im Fachmagazin "Nature" nun endgültig verworfen. Ein Team dänischer und spanischer Forscher führte molekulare Analysen an einem Gigantopithecus-Fossil durch und kam zum Schluss, dass der Riese ungefähr so weit vom Menschen entfernt war, wie es innerhalb der Menschenaffen überhaupt nur geht.

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Der mächtige Unterkiefer eines Gigantopithecus blacki.
Foto: Reuters/Wei Wang

Sein nächster noch lebender Verwandter ist demnach der Orang-Utan – vielleicht nicht ganz überraschend, da dieser ebenfalls in Südostasien lebt. Heute kommen Orang-Utans zwar nur noch auf Sumatra und Borneo vor, früher erstreckte sich ihr Verbreitungsgebiet aber auch auf das asiatische Festland und reichte bis in den Süden Chinas.

Auf und Ab des Menschenaffenzeitalters

Die gemeinsamen Ahnen von Orang-Utan und Gigantopithecus lebten in einer langsam zu Ende gehenden Ära, in der weite Teile Afrikas, Asiens und Europas von vielen verschiedenen Menschenaffenarten besiedelt waren. Mit der sukzessiven Abkühlung des Weltklimas und dem Rückzug der Regenwälder dampfte sich das allmählich auf eine afrikanische und eine südostasiatische Linie ein.

Letztere spaltete sich weiter in Orang-Utan und Gigantopithecus auf. Laut dem Team um Frido Welker von der Universität Kopenhagen dürfte das schon vor zehn bis zwölf Millionen Jahren geschehen sein. Zum Vergleich: Etwa in diesem Zeitraum spalteten sich die Gorillas vom Rest der afrikanischen Entwicklungslinie ab. Die Trennung von Schimpansen und Menschen erfolgte nach heutigem Wissensstand erst vor sechs bis acht Millionen Jahren.

Die Quelle der Daten

Grundlage dieser Aussagen ist die Analyse eines 1,9 Millionen Jahre alten Gigantopithecus-Backenzahns, der in der Höhle von Chuifeng in China gefunden worden war. Mittels Massenspektrometrie gelang es den Forschern, die Proteine aus dem Zahnschmelz und Zahnbein zu sequenzieren. Der Zahn ist viel zu alt, als dass unter subtropischen Bedingungen DNA erhalten geblieben wäre. Aber auch das Proteom – also die Gesamtheit aller Eiweiße im Körpergewebe – ermöglicht Vergleiche zwischen verschiedenen Arten. Dadurch gelang es Welkers Team, die Verwandtschaftsbeziehungen des Riesenaffen zu bestimmen.

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In dieser Höhle wurde der untersuchte Backenzahn gefunden.
Foto: Reuters/Wei Wang

Zugleich sehen die Forscher ihre Methode als gute Möglichkeit, künftig auch den direkten menschlichen Stammbaum besser zu durchleuchten. Informationen aus herkömmlichen DNA-Analysen reichen bislang lediglich 400.000 Jahre zurück. Das ist nur etwa 100.000 Jahre älter als der (archaische) Homo sapiens selbst. Analysen des Paläoproteoms würden den Zeithorizont deutlich verschieben – mindestens auf zwei Millionen Jahre, wie der Gigantopithecus-Zahn zeigt.

Offene Fragen

Schon zuvor hatten die vielen Gigantopithecus-Zähne, die man bereits gefunden hat, wertvolle Informationen geliefert. Ihre breite und flache Form, ihre chemische Zusammensetzung und mikroskopische Nahrungsreste, die auf ihnen gefunden wurden, haben gezeigt, dass der Riesenaffe ein Pflanzenfresser war.

Möglicherweise hat das letztlich auch zu seinem Aussterben geführt: Die zahlreichen Klimaumschwünge während des Eiszeitalters hatten gravierende Auswirkungen auf die Vegetation. Ein spezialisiertes Tier, das aufgrund seiner Körpergröße einen hohen Nahrungsbedarf hatte, konnte mit diesen Veränderungen vielleicht nicht mehr Schritt halten.

Eine ältere Rekonstruktion von Gigantopithecus blacki mit eher gorilliger Anmutung.
Illustration: APA/AFPSENCKENBERG RESEARCH INSTITUTE / H. Bocherens

Die vielen Zahnfunde haben allerdings auch eine Kehrseite – sonst hat man nämlich so gut wie nichts in Händen. Nur Zähne und ein paar Unterkiefer, aber keinen vollständigen Schädel und keine Knochen aus dem Rumpfskelett oder den Gliedmaßen. Wie der Riesenaffe tatsächlich ausgesehen hat, kann also nur vermutet werden.

Die geklärte Verwandtschaft macht ein bestimmtes Erscheinungsbild wahrscheinlich, weshalb bildliche Darstellungen von Gigantopithecus heute tendenziell in Richtung XL-Orang-Utan gehen. Aber das sind eben nur Wahrscheinlichkeiten und ein Schluss vom Kleinen aufs große – in dem Fall: sehr große – Ganze. Überraschungen im Detail durch neue Funde lassen sich nie ganz ausschließen, und Gigantopithecus mit all seinen offenen Fragen wird weiter ein Faszinosum bleiben. (jdo, 17. 11. 2019)