Ehemaliger Staatsmann Franz Vranitzky: "Der einzelne Bürger findet sich in der Politik der Sozialdemokratie oft nicht mehr wieder."
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Der Kontrast könnte nicht härter sein. Der frühere SPÖ-Chef Franz Vranitzky empfängt den STANDARD in Bruno Kreiskys ehemaliger Villa in Wien-Döbling, wo heute das nach dem Hausherren benannte Forum für internationalen Dialog residiert. An den Wänden zeugen Fotos von den Jahren, als der rote "Sonnenkönnig" mit absoluter Mehrheit regierte und auf der diplomatischen Weltbühne stand, doch die Gegenwart ist weitaus unglamouröser. Die SPÖ hat mit 21 Prozent nicht einmal mehr die Hälfte der Stimmen wie zur Blütezeit. Vranitzky, Kreiskys Nachnachfolger als Kanzler und SPÖ-Chef, kennt Gründe dafür – und gibt im Interview manchen Hinweis auf einen Ausweg.

STANDARD: Machen Sie sich Sorgen, dass die SPÖ untergeht?

Vranitzky: Nein, ich warne vor Endzeitstimmung. Die Situation ist nicht rosig, doch um da herauszukommen, müssen die Sozialdemokraten kühlen Kopf und klaren Blick bewahren – wobei Gesundbeten allerdings auch nichts hilft.

STANDARD: Sogar rote Hochburgen wie die Industriestädte in der Obersteiermark kippen zu Türkis. Haben Sie jemals eine derart gravierende Krise in der Partei erlebt?

Vranitzky: Eine so tiefe Krise habe ich noch nicht erlebt. Aber weil Sie die Mur-Mürz-Furche erwähnen: Als die verstaatlichte Industrie vor dem Abgrund stand, haben wir gerade dort viele Wähler verloren. Indem wir aber mit Hartnäckigkeit unsere Linie gehalten haben, konnten wir viele wieder zurückgewinnen. Das zeigt, dass Hoffnungslosigkeit der schlechteste Ratgeber ist.

STANDARD: Fehlt der SPÖ heute diese Konsequenz?

Vranitzky: Die verlässliche Linie fehlt, aber das ist kein Wunder, schließlich ist die SPÖ von einem Unheil ins andere geschlittert. Die höchstgradig schädliche Entwicklung hat damit begonnen, dass Werner Faymann am 1. Mai 2016 vom Rathausplatz geschrien und gepfiffen wurde.

STANDARD: War sein Sturz falsch?

Vranitzky: Das will ich im Rückblick nicht beurteilen, aber die Art und Weise war nicht zu billigen. Der Nachfolger hat hoffnungsvoll begonnen, ist dann aber in sich zusammengebrochen.

STANDARD: Sie meinen Christian Kern, der bald nach der verlorenen Kanzlerschaft aufgegeben hat.

Vranitzky: Kern war eine große Hoffnung, sein persönliches Verhalten war aber unverständlich. Parteichefin Pamela Rendi-Wagner hat als Neuankömmling deshalb riesige Schwierigkeiten schultern müssen. Aber das allein erklärt die Krise nicht, denn die Sozialdemokraten stecken europaweit im Abwärtstrend.

STANDARD: Was sind die tiefer liegenden Ursachen?

Vranitzky: Der einzelne Bürger findet sich in der Politik der Sozialdemokraten oft nicht mehr wieder. Die SPÖ neigt wie ihre Schwesterparteien dazu, die über Jahrzehnte errungenen Wahlerfolge als selbstverständlich anzusehen – und wenn sich diese Erfolge nicht mehr einstellen, greift sie auf alte Werkzeuge zurück. Doch die Antworten von früher gelten nicht mehr in einer Welt, die sich in rasender Eile verändert – von der Digitalisierung bis zur Zuwanderungswelle.

STANDARD: Wo fehlen der SPÖ zum Beispiel die Antworten?

Vranitzky: Neulich hat mich in der Innenstadt ein Mann angesprochen, um sein Leid zu klagen: Er wohne in einem Gemeindebau, links und rechts flankiert von türkischen Familien – für ihn ein Beleg dafür, dass die Sozialdemokratie ungerecht geworden sei. Diese Problemlage gab es vor 30 Jahren noch nicht. So irrational das Anliegen auch sein mag: Die SPÖ muss auf diese Menschen zugehen, um die veränderte Welt zu erklären – und versuchen, sie mitzunehmen.

"Als staatstragende Partei kann es sich die SPÖ nicht leisten, das Thema Ausländer wie bisher einfach zu meiden", sagt Vranitzky
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STANDARD: Womit wir beim Ausländerthema sind ...

Vranitzky: ... bei dem sich die SPÖ zweifellos schwertut. Die Positionen klaffen von streng bis großzügig auseinander, die Überbrückung ist nicht gelungen. Verschiedene Strömungen schwächen auf Dauer die Einigkeit der Partei und damit die Schlagkraft. Als staatstragende Partei kann es sich die SPÖ nicht leisten, das Thema wie bisher einfach zu meiden, sie muss sich eine Position erarbeiten. Aber ich räume ein: Die Patentlösung ist auch mir noch nicht untergekommen.

STANDARD: Erklärt dieser Unterschied allein, dass Sebastian Kurz momentan unantastbar erscheint?

Vranitzky: Von Kanzler zu Kanzler halte ich mich zurück. Da käme jetzt kein stolzes Urteil heraus, aber ich will während Regierungsverhandlungen nicht den Wadlbeißer spielen. Er punktet mit PR, Inszenierung und einigen Schlagworten, die einer genauen Prüfung nicht standhalten: Der Schutz der EU-Außengrenzen ist ein berechtigtes Verlangen, findet aber nicht statt – daran hat auch Kurz’ Regierung nichts geändert.

STANDARD: Noch eine These: Die Sozialdemokratie habe den Wohlfahrtsstaat erkämpft – und sich damit quasi überflüssig gemacht.

Vranitzky: Das ist die Abstempelung des Liberalen Ralf Dahrendorf, gegen die ich mich zur Wehr setze. Der Sozialstaat ist erreicht, kann aber auch wieder verloren gehen, und es gibt Phänomene, wo wenig Wohlfahrt anzutreffen ist – von Kinderarmut bis zu atypischen und prekären Arbeitsverhältnissen. Sozialdemokratische Politik muss sich dieser Gruppen mehr annehmen. Die vorwiegende Orientierung am klassischen Arbeitnehmer ist zu wenig.

STANDARD: Hat die SPÖ nicht auch das strategische Problem, dass die Abgehängten zum Gutteil Migranten ohne Wahlrecht sind?

Vranitzky: Das ist ein Problem. Aber ich bin dafür, der gesellschaftlichen Realität Rechnung zu tragen. Migranten, die viele Jahre hier arbeiten und Steuern zahlen, sollen auch ohne Staatsbürgerschaft das Wahlrecht erhalten.

STANDARD: So mancher Genosse kritisiert, die Sozialdemokratie habe gerade in den Neunzigern, als Sie regierten, die Orientierung verloren, sich sogar dem Neoliberalismus angebiedert.

Vranitzky: Die europäische Sozialdemokratie hat mit dem Dritten Weg tatsächlich viel Kapital verspielt. Diese Richtung war ein Fehler. Aber für die SPÖ stimmt das nicht, für uns kam die soziale Komponente an vorderster Stelle.

STANDARD: Der deutsche Ex-Kanzler Gerhard Schröder, einer der Stars des Dritten Weges, hat Sie aber als Vorbild gewürdigt, weil Sie als Erster jene Reformpolitik umgesetzt hätten, die er später auch durchzog. Was als Lob gemeint war, klingt für viele Genossen heute wie das Gegenteil.

Vranitzky: Ich kenne das Zitat gar nicht, macht aber nichts, ist eh falsch. Hartz IV und die Agenda 2010 mögen in Deutschland zu einer Konjunkturbelebung beigetragen haben, Tatsache ist aber: In Österreich gab es zu meiner Zeit nichts, das mit Einschnitten nach dem Muster von Hartz IV vergleichbar wäre.

STANDARD: Sozialkürzungen gab es, wenn auch nicht so gravierend, aber schon.

Vranitzky: Wir haben immer auf einen ausgewogenen Mix wert gelegt und sind auch neue Wege gegangen, zum Beispiel mit der Einführung des Pflegegeldes. Im Übrigen sind wir zu meiner Zeit die unangefochtene Nummer eins bei allen Nationalratswahlen geblieben.

STANDARD: Eine Ihrer großen Leistungen war, Österreich in die EU geführt zu haben. Doch gefällt Ihnen, was daraus geworden ist?

Vranitzky: Der Zustand der EU kann mir nicht gefallen. Die Regierungschefs unterlassen es über lange Strecken, Europapolitik zu betreiben, sie machen in Brüssel lieber Innenpolitik: Sie einigen sich auf etwas, erfüllen die Verpflichtungen aber zu Hause nicht.

STANDARD: Was meinen Sie etwa?

Vranitzky: Freihandelsabkommen. Da tut die SPÖ leider mit. Die andere Variante ist, sich auf die böse EU auszureden. Dann setzt sich in der Bevölkerung natürlich die Meinung durch, jeder Blödsinn komme aus Brüssel – was nur den Rechtspopulisten hilft.

Der frühere Kanzler vermisst Stil in der heutigen Politik: "Respektlosigkeit ist zum Prinzip geworden."
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STANDARD: Aus der Distanz betrachtet: Hat sich der Stil in der Politik geändert?

Vranitzky: Durchaus. Respektlosigkeit ist zum Prinzip geworden. Parlamentsdebatten waren früher ebenfalls hart, gingen aber nicht ins Persönliche. Auch manche Medien spielen da mit. Es war früher nicht üblich, Äußerlichkeiten zu thematisieren. Bruno Kreisky hat immer Maßanzüge und Maßschuhe getragen, sein Nachfolger Fred Sinowatz genau nicht. Trotzdem hat sich niemand darüber mokiert wie jetzt über die einförmigen Jacken von Angela Merkel.

STANDARD: Bei der SPÖ-Wahlabschlussveranstaltung sagten Sie in Anlehnung an ein Arbeiterlied zur heutigen Parteichefin: "Du bist unsere neue Zeit." Ein Irrtum?

Vranitzky: In einem Wahlkampfzelt kurz vor der Wahl sind aufmunternde Worte nie ein Irrtum.

STANDARD: Wird sich Rendi-Wagner denn halten können?

Vranitzky: (greift zu Tasse vor sich) Kaffeesudlesen hat keinen Sinn. Aber vielleicht ist etwas dran an der Kritik, dass ihr Beraterstab nicht der Beste ist.

STANDARD: Kritik erntet vor allem ihr Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch. Zu Recht?

Vranitzky: In London würde man sagen: He doesn’t set the Thames on fire. Doch Rendi-Wagner ist eine Frau, die eine einmal eroberte Loyalität nicht aufgibt.

STANDARD: Was können Sie als Mensch mit viel Lebenserfahrung Jüngeren mitgeben?

Vranitzky: Ich habe eher einen Rat an die Alten in der SPÖ. Sie müssen die Tür für den Schwung der Jungen weit öffnen, um das Image des Altmodischen wegzubekommen. Rendi-Wagner hat eine wertvolle Eigenschaft, nämlich ihre Kontaktoffenheit. Diesen menschlichen Faktor gilt es zu nützen – etwa um mit den Abgeordneten in den verschiedenen Wahlkreisen persönliche Bindungen zu schaffen und Bürgernähe aufzubauen. So gewinnt man Leute, die in Diskussionen im Wirtshaus im Namen der Sozialdemokratie dann ordentlich dagegenhalten.

STANDARD: Und worauf kommt es im Leben abseits der Politik an?

Vranitzky: Das weiß ich auch im Alter von 82 Jahren nicht so genau. Mir hat ein deutscher Rabbi einmal erklärt, dass in Wahrheit vier Juden das Weltgeschehen bestimmt hätten. Karl Marx hat den Verstand hervorgehoben, Jesus das Herz, Sigmund Freud die Libido. Doch dann kam Albert Einstein und sagte: Alles ist relativ. (Gerald John, 15.11.2019)