Mit Coach Schuster ging es für den deutschen Skisprung fast nur bergauf. Jetzt ist Schlierenzauer dran.

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Ende der vergangenen Saison gehörte Gregor Schlierenzauer, der Sieger von 53 Einzelweltcupspringen, nicht mehr zum österreichischen Weltcupaufgebot. Seit sich der 29-Jährige Rat bei seinem ehemaligen Stamser Trainer Werner Schuster holt, geht es wieder bergauf. Beim Weltcupauftakt am 23./24. November in Wisla ist er dabei. Schuster, der als deutscher Chefcoach aufgehört hat, wird daheim in Mieming vor dem Fernseher sitzen.

STANDARD: Ihr Vertrag als Cheftrainer der deutschen Skispringer endete vor rund sechs Monaten. War es die goldrichtige Entscheidung, Schluss zu machen?

Schuster: Es gab seither ein, zwei Begegnungen mit der deutschen Mannschaft, aber ich hatte da schon das Gefühl, dass die Entscheidung die richtige war. Es waren ja elf Jahre in dieser exponierten Position, das war sehr intensiv. Ich habe nach wie vor ein gutes Verhältnis zu allen, aber um das elf Jahre zu machen – und die Ausgangsposition war ja nicht so rosig wie die Endsituation –, muss man schon sehr viel investieren. Da geht es nicht nur um das persönliche Engagement, da muss auch das Umfeld mithelfen, die Familie. Um den Level zu halten, hätte es ein weiteres Rieseninvestment gebraucht. Und bis zur Pension hätte ich es eh nicht mit dieser Mannschaft geschafft. Ich habe auch beobachtet, wie man mit Kollegen umgegangen ist, die viele Jahre engagierte Arbeit gemacht haben. Ich wollte das Heft des Handelns in der Hand behalten. Außerdem sind meine Söhne 13 und 16 Jahre alt – wenn ich noch etwas mithelfen, meine Frau entlasten kann, dann jetzt.

STANDARD: Haben auch Ihre Springer etwas Neues gebraucht?

Schuster: Ich habe mit einer anderen Mannschaft begonnen als der, die jetzt dasteht. Ein Grund dafür, dass ich es so lange machen konnte, war ein Generationswechsel. Jetzt wären wieder neue Springer da, das hätte mich gereizt. Andererseits hatte ich das Gefühl, dass es dem einen oder anderen guttun könnte, einen anderen Cheftrainer zu erleben. Wenn man Leute, mit denen man sieben, acht Jahre arbeitet und reist, immer ans Limit führen muss, kann das nicht völlig friktionsfrei funktionieren – klar, das ist Hochleistungssport.

STANDARD: Und der Kontakt mit Spitzenathleten fehlt nicht, der Kontakt zum Zirkus insgesamt?

Schuster: Ich habe durch meine Arbeit mit Gregor Schlierenzauer weiter Kontakt mit einem Spitzenathleten. Das ist sehr angenehm. Menschen zu formen und ans Limit zu bringen ist schon eine coole Arbeit. Aber es ist auch mal erholsam, nicht den Kopf in der ersten Reihe hinzuhalten. Und ich muss die langen Reisen nicht jedes Jahr machen. Wenn ich heuer nicht nach Nischni Tagil fahren darf, bin ich nicht traurig.

STANDARD: Wie kann man sich Ihre Arbeit mit Gregor Schlierenzauer vorstellen?

Schuster: Der Gregor hat auf meine Erfahrung Wert gelegt, er wollte meine Expertise aus den Jahren im Weltcup. Wir haben in Deutschland doch auch technische Entwicklungen mit angeschoben. Meine Aufgabe war es auch, sein Denken zu sortieren und zu strukturieren. Er hat sich da ein bisschen verlaufen. Er ist ja ein Mordstüftler, ein Athlet, wie man ihn sich als Trainer nur wünschen kann, weil er sich mit Haut und Haaren dem Sport verschrieben hat. Er hat versucht, über das Material, über alle möglichen Ideen schnellstmöglich die Lücke zur Weltspitze zu schließen. Ich habe mit meiner ganzen Erfahrung versucht, ihm Dinge auszusortieren. Wir mussten eine Grundlage schaffen in seiner Technik und haben die ganze Materialfrage etwas runtergeschraubt auf, ich sage einmal, ein Standard-Set-up, um wieder den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Beim Gregor musste man zuerst entrümpeln.

STANDARD: Wie unterscheidet sich die Arbeit mit dem 15-jährigen Schlierenzauer von der mit dem nun 29-jährigen Skispringer?

Schuster: So kurios es klingt, es ist nicht unähnlich. Er hat schon mit 14, 15 Jahren teilweise damit angefangen, meine Kraftprogramme zu hinterfragen, um nicht zu sagen, zu kritisieren. Er hatte schon damals ganz klare Vorstellungen und ein irrsinniges Bewegungsgefühl. Familiär bedingt, mit seinem Onkel Markus Prock und seinem Vater, der vom Sport wahnsinnig viel Ahnung hat, wurde ihm die Materialtüftelei mitgegeben. Er hatte aber auch die Kinästhetik, um das mit seinen jungen Jahren schon auszudifferenzieren. Diese Stärke ist ihm in den vergangenen Jahren fast ein bisschen auf den Kopf gefallen, weil er den Überblick verloren hat.

STANDARD: Was macht die Erfahrung aus?

Schuster: Er ist koordinativ, speziell fliegerisch, noch immer sehr begabt. Und sein Ehrgeiz ist ungebrochen, seine Priorisierung passt. Als erwachsener Mann weiß er mehr, er ist selbstbewusster und kann auf eine Erfolgspalette zurückgreifen. Wir sind auch technisch sehr schnell auf einen grünen Zweig gekommen. Ich muss aber auch eine Lanze für meine Kollegen brechen, denn Gregor hat zu einem gewissen Zeitpunkt nur noch wenig angenommen und zugelassen. Es war für jeden Trainer schwierig, aber ich hatte eben einen Startvorteil, weil er sich unsere Zusammenarbeit gewünscht hat. Er hat mir vielleicht ein paar Tage oder Wochen länger zugehört, als er das bei anderen getan hat. Man steht bei ihm ständig auf dem Prüfstand. Weil er so akribisch und penibel ist, muss man eine Antwort haben, wenn er mit einer Idee ums Eck kommt. Er hat einen wahnsinnig hohen Anspruch an sich selber. Den projiziert er auf sein Umfeld, da kommen nicht alle mit. Deswegen ist er anstrengend, aber die guten Leute sind fast alle so.

STANDARD: Wie hat sich Ihr persönliches Verhältnis verändert?

Schuster: Wir verstehen uns gut, sprechen über vieles und spielen auch schon mal eine Runde Golf zusammen, aber wir wahren auch in beiderseitigem Interesse eine gewisse Grunddistanz. Ich bin nicht sein und er ist nicht mein Kumpel. Die Diskussionen finden deutlich mehr auf Augenhöhe statt, weil auch von seiner Seite ein großer Erfahrungsschatz da ist. Jetzt können wir Situationen aufarbeiten, die es vor fünf, acht Jahren gegeben hat. Weil wir ja eigentlich nie offen reden durften.

STANDARD: Hat es Kontakt gegeben, obwohl es ja nicht opportun war, Rat beim Trainer einer anderen Nation zu suchen?

Schuster: Es gab Kontakt, aber es war uns beiden klar, dass ich ihm keinen Tipp geben kann. Er hat gar nicht danach gefragt, um mich nicht in die Bredouille zu bringt. Jetzt bin ich frei, jetzt können wir Dinge ordnen. Ich will ihn nicht glorifizieren, gegenüber mir war der Respekt aber immer gewahrt.

STANDARD: Wie funktioniert die Kommunikation nach außen?

Schuster: Mir war es wichtig, das Team klein zu halten. Er hat zuletzt mehr Eigenverantwortung genommen. Als sich im Sommer abgezeichnet hat, dass er wieder gut Ski springen kann, habe ich auch gesagt, dass man sich rüsten muss. Wir müssen den Spagat schaffen, müssen grundsolide und demütig weiterarbeiten, uns aber ein bisschen auf den Tag X vorbereiten. Denn wenn gefallene Helden wieder aufstehen, dann ist das eine Story, die extrem interessiert. Und das kann beim Skispringen relativ schnell gehen. Da muss er sich auch von der Kommunikationsseite her wohlfühlen.

STANDARD: Hat er sich nicht?

Schuster: Junge Sportler, die so früh hochkommen, entwickeln gerne neben dem Real-Ich ein Öffentlichkeits-Ich, das dann irgendwann dominiert. Dann entfremden sie sich. Da muss man den Mut haben, zu sich zurückzukehren, um glaubhaft vermitteln zu können, worum’s einem geht.

STANDARD: Wie stehen Sie zur Begleitung durch den Sponsor?

Schuster: Ich hab ihm im Frühjahr schon geraten, dass er sich mit meiner Hilfe auf das Wesentliche konzentrieren soll. Er sollte nicht versuchen, das Image parallel oder übergeordnet zu korrigieren oder zu entwickeln, sondern Leistung sprechen lassen. Aber natürlich spielen die Bedürfnisse des Sponsors, der ihm auch in schwierigen Zeiten treu geblieben ist, eine große Rolle, ich mache das ja auch nicht umsonst.

STANDARD: Wird man Sie im Weltcup sehen?

Schuster: Nein, das war von Anfang an klar. Dazu muss ich aber ein bisschen ausholen. Ich war erst zwei, drei Tage zu Hause im April, da hat er mich angerufen. Er hat gezweifelt, ob er überhaupt weitermacht. Und ich habe gesagt: "Gregor, – bevor wir zu reden beginnen – du kannst nicht aufhören. Skispringen ist nicht dein Beruf, sondern deine Berufung!" Das Besondere seiner Karriere ist ja nicht, dass er jetzt ein hartnäckiges ein Tief hat. Das Besondere ist, dass er mit 16 in die Weltspitze gekommen ist und dann neun Jahre das Skispringen dominiert hat. Das hat noch niemand geschafft. Alle, die mit 16, 17 hochgekommen sind, sind nach spätestens drei Jahren tief gefallen. Er ist 29, es tut ihm nichts weh, und wenn es der Kasai mit über 40 schafft, warum nicht auch er? Unser Beispiel war immer der Tiger Woods. Der hat zehn Jahre kein Turnier gewonnen, den haben sie kaputtgeschrieben. "Es gibt für mich keinen rationalen Grund, warum du nicht wieder gut Ski springen solltest", habe ich gesagt. "Ich helfe dir, an den richtigen Schrauben zu drehen, Garantie gibt es keine, aber du musst es versuchen." Aber ich habe gleich gesagt, dass ich ihn nicht die ganze Saison begleiten kann, da hätte ich schließlich in Deutschland bleiben können.

STANDARD: Für sein Standing im Nationalteam wäre das schwierig.

Schuster: Wir mussten warten, wer bei den Österreichern der Ansprechpartner wird. Ich berate ihn zu Hause in Materialfragen, mental, athletisch. Ich gehe mit ihm auch einmal auf die Schanze, aber es muss bei den Verbandsmaßnahmen angedockt werden. Ich will ja nicht parallel arbeiten. Ich war zu lange Verbandsmann, um dagegen etwas beweisen zu müssen. Ich habe eine tolle Trainerkarriere bisher gehabt. Dann kam Robert Treitinger zum ÖSV. Den kennt der Gregor, und ich kenne ihn auch. Ich mache Grundlagenarbeit, dann kommunizieren wir, und er wird im Team übernommen. So ist es geplant, so war es im Sommer schon. Jetzt ist er wieder Bestandteil des Weltcupteams. Das ist ein erster Erfolg.

STANDARD: Wo soll’s hingehen?

Schuster: Mein Wunschszenario wäre es, dass er von A bis Z die Weltcups durchfährt, dass er zurechtkommt und sich wieder in die Elite reinspringt und ich ihm dazwischen immer wieder für ein Training oder eine Analyse zur Verfügung stehe – als die Stimme von außen. Wenn es so nicht geht, dann geht es eben nicht.

STANDARD: Was ist Ihr Animo?

Schuster: Ich mache das aus einer gewissen Verbundenheit dem Gregor gegenüber. In Deutschland wurde ich als der Jugendtrainer von Schlierenzauer empfohlen. Er war für mich eine Art Referenz. Ich fühle mich auch wertgeschätzt, dass der ehemals Beste wieder auf meinen Rat Wert legt. Für mich wiederholt sich die Geschichte. In Deutschland war, als ich kam, Martin Schmitt der gefallene Held. Die Leute haben gesagt: "Sortiere den Schmitt aus, der trägt nur noch seinen Helm spazieren." Ich habe gesagt: "Lasst mich machen, ich kenne ihn noch gar nicht." Er hatte dann noch eine tolle Saison und ist Vizeweltmeister geworden, er hat zwar nicht mehr gewonnen, kam aber aufs Podium. Ich habe gemerkt, wie wichtig das auch für ihn persönlich war. Zurückzukehren in den elitären Kreis ist für den Sportler extrem wichtig, dann kann man einfach zufriedener auseinandergehen. Ich hoffe, dass ich einen Beitrag dazu leisten kann, dass das auch dem Gregor gelingt. (Sigi Lützow, 16.11.2019)