Gedenken an das Massaker von Tuzla im Bosnienkrieg.

Foto: ELVIS BARUKCIC / AFP

Am Freitag fand in Belgrad eine Veranstaltung zum Thema "Historischer Revisionismus: Ein Faktor der Destabilisierung der regionalen Beziehungen" statt. Das Thema ist zurzeit in aller Munde, weil es einige aktuelle Anlassfälle gab, bei denen auch von offizieller staatlicher Seite versucht wurde, den Verlauf der Kriege in Kroatien, in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo und die Fakten über die Kriegsverbrechen zu verdrehen oder zu verleugnen oder umzudeuten.

Am Mittwoch haben sich etwa zahlreiche Bürger in der bosnischen Stadt Tuzla zu einer Demonstration eingefunden, um gegen die revisionistischen Theorien in einem Buch zu demonstrieren, das Anfang November in Belgrad erschienen ist. In dem Buch "Tuzla Gate – eine inszenierte Tragödie" wird von dessen Autor geleugnet, dass die Armee der Republika Srpska (VRS) am 25. Mai 1995 die Innenstadt beschossen hat und damit für den Tod von 71 Menschen – darunter waren Schulkinder – verantwortlich war.

Nach Serbien abgesetzt

Ilija Branković, der Autor und ein ehemaliger serbischer General, behauptet, der Sprengsatz sei "von anderen" dort platziert worden, obwohl die Verantwortung der VRS für das Massaker längst gerichtlich erwiesen ist. Das geschichtsverfälschende Buch wurde bei einer Veranstaltung des serbischen Verteidigungsministeriums im Militärklub in Belgrad beworben. Novak Đukić, der als Kommandeur der VRS damals den Beschuss der Stadt angeordnet hat, wurde bereits vor Jahren zu 20 Jahren Haft verurteilt. Er hat sich allerdings nach Serbien abgesetzt. Und in Serbien gibt es noch kein Urteil darüber, ob er in Serbien und nicht in Bosnien-Herzegowina seine Haftstrafe absitzen soll.

Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, kritisierte das serbische Verteidigungsministerium, mit der Veranstaltung für die Präsentation des Buchs bezüglich des Massakers in Tuzla "Falschinformationen und Desinformation zu verbreiten". Das Ministerium antwortete mit der Behauptung, dass "jeder Versuch einer anderen Sichtweise des Bürgerkriegs in Bosnien und Herzegowina ein großes Verbrechen ist, wenn es von Serben kommt". Weiter hieß es aus dem Ministerium: "Die Serben waren viele Male Opfer von Doppelmoral und wurden und werden immer noch wegen der Verbrechen anderer angeklagt."

"Nato-Aggression – niemals vergessen"

Das serbische Verteidigungsministerium wird von dem Rechts-außen-Politiker Aleksandar Vulin geführt. Im Haus der Serbischen Armee in Belgrad fand auch im März dieses Jahres eine Veranstaltung anlässlich des 20. Jahrestags des Nato-Bombardements statt. Bei der Veranstaltung unter dem Motto "Nato-Aggression – niemals vergessen – 1999–2019 – Frieden und Fortschritt statt Krieg und Armut" vom Belgrader Forum für eine Welt von Gleichberechtigten sprachen einige Deutsche wie Klaus Hartmann, Kovorsitzender des Internationalen Komitees "Slobodan Milošević", der die "westlichen Kriegstreiber und ihre Medienmeute" kritisierte.

Zugegen war auch der AfD-Politiker Rainer Rothfuß, der zuvor mit dem russisch-nationalistischen Motorradclub Nachtwölfe aufgetreten war. Zudem ergriff der deutsche Psychologe Rudolf Hänsel das Wort. Hänsel schreibt für das verschwörungsideologische rechtspopulistische Magazin "Compact", dessen Chefredakteur der bekannte deutsche Revisionist Jürgen Elsässer ist. Bei der Veranstaltung sprach aber auch Peter Handke. Handke wurde bei diesem Anlass im März laut "Compact" mit dem "Preis für Mut zur Wahrheit" geehrt.

Revisionistisches Milieu

Es war nicht das erste Mal, dass der Schriftsteller sich in ein revisionistisches Milieu begibt. Zuletzt hatte sein Gespräch mit den beiden Revisionisten Boris Krljić – alias Alexander Dorin – und Peter Priskil, das Peter Handke im Jahr 2011 führte, für Aufregung gesorgt. Handke distanzierte sich nun von den Aussagen in dem Interview: "Ich kann mir auch nicht vorstellen, diese Sätze in dieser Form so gesagt zu haben." Offen ist, wie weit es den Mitgliedern der Schwedischen Akademie bekannt war, in welchem Umfeld sich Handke bewegt.

Das Online-Magazin "The Intercept" schrieb am Donnerstag, dass sich der Juror Henrick Petersen auf ein Buch von Lothar Struck über Handke bezogen hat, ein zweiter Juror, Eric Runesson, auf ein Buch des Innsbrucker Historikers Kurt Gritsch, wenn es um die Bewertung von Handkes Aussagen bezüglich des ehemaligen Jugoslawiens geht. "Diese beiden Bücher weisen jedoch einen großen Fehler auf, den die Nobel-Juroren anscheinend nicht erkannt haben", kritisiert "The Intercept". Denn beide Bücher stützten sich auf eine Verschwörungstheorie, wonach die amerikanische Werbefirma, Ruder Finn Global Public Affairs, eine Kampagne geführt habe, um die von Serben begangenen Gräueltaten aufzublähen und damit die US-Meinung gegen die Serben zu manipulieren.

Autoren weisen Kritik von Intercept zurück

Kurt Gritsch verweist in einer Stellungnahme darauf hin, "dass sein Buch keine Verschwörungstheorie vertrete, sondern lediglich in einem vergleichsweise belanglosen Nebenaspekt der Handke-Rezeption die unter Wissenschaftlern diskutierte These referiere, dass Ruder Finn dazu beigetragen habe, die serbischen Lager mit dem Holocaust zu vergleichen".

Lothar Struck weist ebenfalls die Darstellung von Intercept gegenüber dem Standard zurück. Die Äußerung, Ruder Finn wäre beauftragt worden, serbische Verbrechen "aufzublähen" sei "nirgendwo in meinem Buch zu finden", so Struck zum Standard. "In meinem Buch zeige und belege ich, dass Ruder Finn seit 1991 für Bosnien, Kroatien und das Kosovo tätig ist. Auftraggeber waren anfangs Privatpersonen, Exilregierungen oder auch, später, offiziell die Staaten selber. Die zum Teil erheblichen Summen lassen darauf schließen, dass es mehr als nur um schöne Prospekte und griffige Parolen ging. Man organisierte beispielsweise Treffen von amerikanischen Entscheidungsträgern mit Politikern aus der Region, vergnügte sich in Veranstaltungen oder auf Informations-Events oder bot Reisen nach Europa an. Aber auch Unterweisungen lokaler Politiker aus Bosnien und Kroatien, die mit den Gesetzmäßigkeiten in der medialen Welt nicht oder nur unzureichend vertraut waren, standen auf dem Programm", so Struck zum Standard.

"Auf allen Seiten", "fast auf gleicher Höhe"

Ungeklärt bleibt, ob die Juroren auf die Expertise von Südosteuropa-Historikern oder Politikwissenschaftern, die mit den Fakten über die Kriege vertraut sind, zurückgegriffen haben. Durch die zahlreichen wissenschaftlichen Forschungen sind die Fakten gut dokumentiert.

Handke selbst hat seit dem Jahr 1995 immer wieder den historischen Ablauf und die Fakten über die Verbrechen in Bosnien-Herzegowina falsch dargestellt. So hatte er etwa in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" im Jahr 2010 gesagt: "Und davon abgesehen – und das ist es, was die Leser in ihren Herzen endlich verstehen müssen – sind die Zahlen der jungen und weniger jungen Toten in den bosnischen Kriegen auf allen Seiten, bei den Muslimen, den Kroaten, den Serben, fast auf gleicher Höhe."

Forschungs- und Dokumentationszentrum

Die Fakten sehen anders aus. Insgesamt waren laut dem Bosnischen Totenbuch 81 Prozent aller ziviler Opfer (38.239) im gesamten Gebiet von Bosnien-Herzegowina Menschen mit muslimischen Namen – Bosniaken genannt – nämlich 31.107 Personen, 4.178 waren Serben (elf Prozent) und 2.484 Kroaten (sieben Prozent). Vergleicht man die Zahlen aller Opfer – also auch der Soldaten –, so waren 62 Prozent Bosniaken, 25 Prozent Serben und acht Prozent Kroaten. Das Bosnische Totenbuch wurde vom Zentrum für Forschung und Dokumentation in Sarajevo erstellt und umfasst alle Daten und Fakten von unabhängigen Organisationen. Die Zahlen waren ab 2007 bekannt.

Der Krieg in Bosnien-Herzegowina wurde unter anderem geführt, weil rechtsradikale völkische Nationalisten das Zusammenleben aller Bosnier – egal welche Namen sie haben – beenden, die sogenannten Volksgruppen trennen und das Gebiet der Republika Srpska "ethnisch" säubern wollten, damit sie es danach einem Großserbien anschließen können. Deshalb wurden vor allem Nichtserben vertrieben und getötet. Es ging dabei aber nicht darum, ob die Täter Serben waren oder Nichtserben – sondern um ihre Ideologie, die zum Krieg führte. Die Zugehörigkeit zu Volksgruppen machte sie nicht zu Tätern. Es gab etwa Serben, die verfolgte Menschen mit muslimischen Namen gerettet haben.

Mit dem Tode bedroht

Handke hat zudem wiederholt die Massengewalt im Juli 1995 an Menschen mit muslimischen Namen fälschlicherweise als "Rachemassaker" oder "Racheakt" bezeichnet. Tatsächlich wurde vom damaligen General der Armee der Republika Srpska, dem Kriegsverbrecher Ratko Mladić, der Auftrag zur Massentötung erteilt. Einer jener Täter, die wegen des Massakers verurteilt wurden, war der bosnische Kroate Dražen Erdemović. Er wurde nach eigenen Angaben mit dem Tode bedroht, sollte er nicht dem Befehl von Mladić nachkommen. Er bekannte sich später zu seiner Schuld.

In dem Interview in den Ketzerbriefen sagte Handke über den Verlauf der Geschichte: "Damals lebten noch viele Serben in Srebrenica, doch mittlerweile sind die Moslems dort stark vertreten." Tatsache ist: Laut dem Zensus hatten in Srebrenica vor dem Krieg mehr als 75 Prozent der Einwohner muslimische Namen, 22,7 hatten serbisch-orthodoxe Namen. Lebten 1991 noch mehr als 36.000 Menschen in der Stadt, sind es heute nur noch 13.000. Von diesen haben heute 54 Prozent muslimische Namen.

Gesetz gegen Leugnung von Kriegsverbrechen

Von den 8.331 Personen, die bei dem systematischen Massenmord an Menschen mit muslimischen Namen rund um Srebrenica nach dem Fall der Stadt im Juli 1995 getötet wurden, waren 5.113 aus der Gemeinde Srebrenica. Andere waren in den Kriegsjahren zuvor aus den Dörfern ringsherum nach Srebrenica geflüchtet, weil die Stadt einer der wenigen Orte war, die 1992 nicht von der Armee der Republika Srpska eingenommen worden war.

Der Hohe Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina, Valentin Inzko, bedauerte kürzlich öffentlich, dass es immer noch Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gäbe, die behaupteten, die europäischen Werte zu wahren, während sie den Völkermord in Srebrenica und andere Kriegsverbrechen in Bosnien-Herzegowina leugneten. In Bosnien-Herzegowina wird seit langer Zeit darüber diskutiert, die Leugnung von Kriegsverbrechen und die Verherrlichung von Kriegsverbrechern unter Strafe zu stellen. (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 16.11.2019)