Im Gastkommentar fordert der ehemalige Botschafter in der Slowakei Helfried Carl, dass sich Österreich stärker mit Sprache und Kultur unserer nichtwestlichen Nachbarn auseinandersetzen sollte. Lesen Sie auch den Gastkommentar von Berthold Molden zu Österreichs selektivem Gedächtnis und Erhard Stackls Erinnerungen an die Samtene Revolution.

1989 öffneten sich für die Bürger des Ostblocks die Grenzen. Doch der Westen scheint heute noch wenig Interesse daran zu haben, die andere Seite der Grenze auf Augenhöhe zu entdecken.
Foto: Imago / Jochen Tack

Über die Licht- und Schattenseiten der Transformation 1989 war erfreulich viel zu lesen. Diese plötzliche Aufmerksamkeit unterstreicht aber auch, wie wenig und wie oberflächlich die Situation in unserer unmittelbaren Nachbarschaft gewöhnlich in den Medien reflektiert wird. Dies ist umso erstaunlicher, als nicht nur die politische, sondern auch die wirtschaftliche Bedeutung dieser Staaten für Österreich durch ihren EU-Beitritt stark zugenommen hat.

Stolz wird auf die Direktinvestitionen in diese Länder verwiesen, mit denen wir in den meisten Fällen im Spitzenfeld liegen. Die tatsächlich enorme volkswirtschaftliche Bedeutung sogar kleinerer Nachbarn wie der Slowakei – elftgrößter Handelspartner vor Spanien, den Niederlanden oder Japan – ist jedoch wenigen bewusst.

Sprachen lernen

So scheint es uns selbstverständlich, dass wir kaum sprachliche Kompetenz gegenüber unseren slawischen und ungarischen Nachbarn aufbauen, obwohl wir mit ihnen massiv verwoben sind. Das deutet auf eine leichtfertige Überheblichkeit gegenüber den im Durchschnitt ärmeren Bevölkerungen dieser Staaten hin. Denn bisher wurden die nötigen Übersetzungsleistungen im Wesentlichen von den Zuwanderern vollbracht, die so zahlreich auf den Arbeitsmarkt gedrängt sind.

Es scheint daher dringend geboten, sich stärker mit Sprache und Kultur unserer nichtwestlichen Nachbarn auseinanderzusetzen. In der Bildungspolitik fänden sich hier viele Ansätze: Es ist im 21. Jahrhundert schwer erklärbar, dass Klassenfahrten fast wie selbstverständlich nach Paris oder London gehen, selten aber nach Krakau, Košice, Laibach, Budapest oder Zagreb.

EU-Förderprogramm

Natürlich geht es den Schulen oft um Kurse für den Spracherwerb. Hier ließe sich die Frage stellen, warum in Österreich das Bildungssystem nicht mehr darauf Rücksicht nimmt, dass es geografisch an der Schnittstelle deutscher, romanischer und slawischer Sprachen liegt. Selbst die Vermittlung von Grundkenntnissen slawischer Sprachen bildet in den höheren Schulen des Landes heute die absolute Ausnahme.

Dieses kulturelle Ungleichgewicht zeichnet allerdings die EU insgesamt aus. Während es "im Osten" selbstverständlich ist, dass neben amerikanischen auch deutsche, österreichische oder lateinamerikanische Filme und Serien im Fernsehen zu sehen sind, kann die durchaus lebendige Filmindustrie in diesen Ländern ein Lied davon singen, auf welche Schwierigkeiten sie in Österreich stößt. Der ORF sah sich etwa anlässlich des 30-jährigen Staatsjubiläums der Slowakei "aus Kostengründen" nicht in der Lage, einen erfolgreichen zeitgenössischen Film zu spielen, den man hätte deutsch synchronisieren müssen. Die EU könnte sich hier – angeregt von einer neuen österreichischen Bundesregierung – mit einem Förderprogramm verdient machen.

Vorurteile und Meinungsschablonen

Angesichts des vorherrschenden Desinteresses ist es leider kein Wunder, dass auch die Berichterstattung über unsere Nachbarn von Stereotypen gekennzeichnet ist: Die "autoritären Tendenzen in den Visegrád-4" sind dabei das wirkmächtigste Vorurteil, das die Wahrnehmung, Unterstützung und Vernetzung mit einer durchaus lebendigen Zivilgesellschaft in all diesen Ländern behindert. In Österreich weiß kaum jemand, dass es während des Migrationssommers 2015 von slowakischen NGOs betriebene Suppenküchen im Burgenland gab und dass 2016 in der Kunsthalle Bratislava eine sehr mutige Ausstellung international renommierter Künstler über die "Angst vor dem Anderen" zu sehen war. Auch dieses Narrativ passte nicht in die vorgegebenen Meinungsschablonen.

Die politische Auseinandersetzung über die Migration ist auch in anderer Hinsicht ein anschauliches Beispiel: Dass hinter der vehementen Ablehnung von "Quoten aus Brüssel" auch eine grundsätzlich unterschiedliche historische Perspektive steht, wurde in der Debatte kaum registriert. Für die alten EU-15 war die EU-Integration ein Bollwerk gegen einen Rückfall in den Nationalismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Staaten verständigten sich daher auf die Abgabe nationalstaatlicher Souveränität zugunsten supranationaler europäischer Gestaltungsmacht im Zeitalter der Globalisierung.

Aus Sicht vieler Politiker der ehemaligen Satellitenstaaten war die Erlangung von Nato- und EU-Mitgliedschaft hingegen eine Versicherungspolizze gegen Moskau. Man erinnert sich noch an den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts 1968 in die Tschechoslowakei. Daher lag für viele Osteuropäer der Sinn der EU-Erweiterung in einer Rückgewinnung nationalstaatlicher Souveränität. Das historisch in diesem Zusammenhang belastete Wort "Quote" hat sich hier als besonders unselig erwiesen.

Expertise nutzen

Die in Wien durchaus vorhandene Expertise besser zu nutzen, um löbliche Initiativen wie das 2014 vom österreichischen Bundeskanzler und den Premierministern Tschechiens und der Slowakei gegründete Austerlitz-Format wieder mit neuem Leben zu erfüllen, wäre eine lohnende Aufgabe einer pragmatischen Außenpolitik.

Der ehemalige slowenische Premier Alojz Peterle zeigte sich neulich nach einer Afrikareise positiv beeindruckt von der dort so selbstverständlich gelebten sprachlichen und kulturellen Vielfalt. Das Motto Europas ist "In Vielfalt geeint". Es ist noch ein weiter Weg dorthin. Österreich sollte sich endlich auf diese lohnende Reise machen. (Helfried Carl, 16.11.2019)