Die diesjährigen Nobelpreise für Abhijit Banerjee und Esther Dulfo (MIT) sowie Michael Kremer (Harvard) haben deren Forschungsprogramm zur Armutsbekämpfung einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. DER STANDARD berichtete über ihre Feldexperimente an Schulen in den ärmsten Ländern. Die Ökonomen untersuchen generell die Frage, wie man Armut bekämpfen kann und welche Politikmaßnahmen in welchem Kontext Erfolge zeigen. Sehr vereinfacht gesprochen kann man sich das als eine Sammlung von Kochrezepten vorstellen: Welche Aktivitäten und Mittel sind nötig, um im Kontext X (Schulen im ländlichen Afrika) den Zustand Y (bessere Leistungen der Schüler) zu bewirken.

Was führt in Schulen in Entwicklungsländern zu besseren Leistungen?
Foto: APA/AFP/WIKUS DE WET

Bei genauerem Hinsehen ist dies allerdings nur ein wichtiger erster Schritt in der Armutsbekämpfung. Wenn das passende Kochrezept gefunden ist, wer sind die Köche? Die Industriestaaten im Norden können auf eine über Jahrhunderte gewachsene Bürokratie zurückgreifen. Auf allen Verwaltungsebenen sind gut ausgebildete Beamte vorhanden, die etwa Ernährungsprogramme an Schulen einrichten oder Geldtransfers an Bedürftige verwalten können.

Mangelndes Fachwissen

All jene, die selbst Projekte in Empfängerländern geleitet haben, wissen, dass die geringe Zahl und die mangelnde Ausbildung von lokalen Beamten ein wesentliches Problem darstellen. Zur Illustration ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung als Projektleiter des Österreichischen Roten Kreuzes in Osttimor in Südostasien.. Die 2002 unabhängig gewordene Republik beschloss 2010, ihre erste Ampel zu installieren. Das junge Land wollte ein Zeichen der Modernität und des Aufschwungs setzen. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Osttimor keinen Führerschein und keine Straßenverkehrsordnung. Viele der Verkehrsteilnehmer hatten noch nie eine Ampel mit eigenen Augen gesehen. Der Ampel war wenig Erfolg beschieden. Sie war an zentraler Stelle in der Hauptstadt errichtet worden, allerdings in einem Kreisverkehr. Es kam zu Unfällen, und die Ampel wurde wieder abmontiert.

Die erste Ampel Osttimors in Dili im Jahr 2010.
Foto: seidler yuki

Das Scheitern der ersten Ampel in Osttimor ist jetzt nicht unbedingt ein Zeichen für Korruption. Die war – wie in vielen gerade erst unabhängig gewordenen Staaten – relativ gering. Es handelte sich schlicht um mangelndes Fachwissen der lokalen Beamten und um ein Versagen der ausländischen Berater, die das Projekt hätten begleiten sollen.

Was braucht es für Reformprojekte?

Das wirft die Frage auf, welchen Einfluss die Ausbildung von lokalen Beamten auf die Abwicklung von Reformprojekten in Entwicklungsländern hat. Und welche Rolle spielen Know-how oder Verweildauer von externen Experten?

Ein neues Forschungsprogramm an der WU Wien untersucht diese Fragen empirisch am Beispiel der Dekolonialisierung britischer Kolonien im 20. Jahrhundert. In den letzten Jahren vor der Unabhängigkeit arbeiteten britische und lokale Beamte mit Hochdruck daran, viele Reformen, die einen funktionierenden Staat ausmachen, etwa im Schulsystem oder im Gesundheitsbereich, rechtzeitig umzusetzen. Wir haben die Personalakten der führenden 20.000 Beamten aus 50 Kolonien zwischen 1939 und 1966 gesammelt. Darin sind unter anderem die Ausbildung, der Karriereverlauf, aber auch die Sprachkenntnisse der britischen und der jeweils lokalen Beamten abgebildet. Wir können beobachten, wer zum Zeitpunkt einer Reform an Schlüsselstellen eingesetzt war.

Erste Ergebnisse gibt es zur Verweildauer von britischen (also ausländischen) Beamten in Afrika. In ehemaligen Kolonien, in denen Briten nach der Unabhängigkeit als Berater ohne Entscheidungsgewalt im Staatsdienst des nun unabhängigen Landes verblieben, verbesserte sich die bürokratische Effizienz, und die Korruption sank. Der Effekt stieg mit der Verweildauer der Briten, solange sie zumindest 25 Prozent der Mitarbeiter in einer Abteilung stellten. Botswana in Ostafrika profitierte am stärksten von diesem Effekt. Hier waren 15 Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer ein Viertel der höheren Beamten Ausländer mit mehr als zehn Jahren Dienstzeit im Land. Eine umfangreichere Studie gemeinsam mit Guo Xu von der Universität Berkeley wird diesen Effekt auf Ministerienebene für alle 50 ehemaligen Kolonien untersuchen.

Die Grafik zeigt einen Wert für die effektive Verwaltung ehemaliger britischer Kolonien in Afrika (Y-Achse) und die Verbleibezeit von britischen Kolonialbeamten im Civil Service nach der Unabhängigkeit (X-Achse).
Quelle: Seidler, V. (2018). Copying informal institutions: the role of British colonial officers during the decolonization of British Africa. Journal of Institutional Economics, 1-24.
Foto: seidler v.

Das richtige Rezept

Eine Serie von teilstrukturierten Interviews, die ich in den Jahren 2017 und 2018 mit 108 ehemaligen Kolonialbeamten geführt habe, ergänzt die detailreichen Personalakten. Die methodische Veschränkung der beiden Datensätze erlaubt eine breite Palette von Fragestellungen. Ein aktuelles Vorhaben mit Jesus Crespo-Cuaresma (WU Wien) untersucht etwa die Seilschaften innerhalb der britischen Beamtenschaft. Welchen Einfluss haben frühere Schüler von Eliteschulen (etwa Old Etonians) auf ihren Karriereverlauf und auf den ihrer Kollegen? Eine geplante Studie mit Robbert Maseland (Universität Groningen) geht den Fragen nach, ob Abgänger von konservativen oder konfessionellen Schulen weniger experimentierfreudig waren und sich generell strenger an Vorgaben aus London hielten und was das für die Reformen bedeutete, für die sie zuständig waren.

Die Antworten aus diesem Forschungsprogramm sollten die vorgeschlagenen Maßnahmen der frischgebackenen Nobelpreisträger gut ergänzen und wichtige Informationen zur Umsetzung liefern – sozusagen das richtige Kochrezept und gut geschulte Köche. (Valentin Seidler, 19.11.2019)

Valentin Seidler leitet das beschriebene Forschungsprojekt am Institut für Makroökonomie der WU Wien. Es wird durch den Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank finanziert. Die Interviewserie mit ehemaligen Kolonialbeamten wurde durch ein Erwin-Schrödinger-Stipendium des FWF unterstützt. Die Personalbögen der Kolonialbeamten wurden am Institute for Advanced Study in Princeton in den Jahren 2014 und 2015 gesammelt, finanziert durch ein Max-Kade-Stipendium der Akademie der Wissenschaften. Valentin Seidler promovierte 2011 an der WU Wien. Davor arbeitete er von 2002 bis 2011 für das Internationale Rote Kreuz in Osteuropa, Afrika, Asien und in Brüssel.