Stellen Sie sich vor: In der Parkspur neben dem Gehsteig stehen ausnahmslos Lkws und große Lieferwagen. Das ist kein verschrobenes Gedankenexperiment. So schaut die Welt nämlich ganz oft aus für Kinder, wenn sie in einer Stadt groß werden. Eingezwängt zwischen Hausmauern und Autotüren, vor sich den grau asphaltierten Boden, sehen sie nicht, was jenseits der neben ihnen aufragenden Automobile los ist. Das ist nicht nur traurig. Das ist auch gefährlich.

Denn die Kinder selbst werden auch kaum gesehen – von den Autolenkern und -lenkerinnen nicht und nicht von den Menschen an den Schalthebeln der Verkehrsplanung.

Und so ist der 20. November, der Tag, an dem 30 Jahre UN-Kinderechtskonvention gefeiert werden, ein guter Tag, um darüber nachzudenken, welche Rechte Kindern im Straßenraum zugestanden werden.

30 Jahre UN-Kinderrechte

"Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich viel, ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist", heißt es in Artikel 3 der Konvention.

Wie spiegelt sich das im alltäglichen Miteinander von motorisierten Erwachsenen und ungeschützten Kindern auf den Straßen? Weder in ihren speziellen Bedürfnissen sind Kinder da wahrgenommen, noch ist ihre Sicherheit garantiert. Laut einer Statistik des Kuratoriums für Verkehrssicherheit verunglücken in Österreich jedes Jahr rund 800 Kinder, wenn sie selbstständig zu Fuß oder per Rad unterwegs sind. Drei von ihnen überleben so einen Unfall nicht.

Das alltägliche Miteinander von motorisierten Erwachsenen und ungeschützten Kindern.
Foto: Patrick Pleul

Abseits von technischen Errungenschaften wie Autokindersitz- und Helmpflicht für Kinder und dem ab 2020 in Wien obligatorischen elektronischen Abbiegeassistenten für Lkws sind wenige Maßnahmen umgesetzt, um der Gefährdung von Kindern vorzubeugen. In Salzburg und Wien laufen Pilotversuche zu Schulstraßen. Eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn wird die Zufahrt zur Schule für Autos gesperrt. Nicht zuletzt soll dadurch verhindert werden, dass eilige Eltern ihren Nachwuchs vor das Schultor chauffieren und dabei andere Kinder gefährden. Diese Maßnahme zeigt, dass eine prekäre Sicherheitssituation erkannt wurde, dennoch gibt es weiterhin viele Schulwege, neben denen Tempo 50 gefahren wird.

Um Kinder effektiv zu schützen, braucht es keine punktuellen Eingriffe, sondern eine grundsätzliche Neuorganisation des Verkehrs.

Reduktion von Parkplätzen und Tempo

Da ist zum einen die Geschwindigkeit. Ein generelles Tempo 30 in den Städten, im Ortsgebiet und vor jeder Schule wirkt unfallvorbeugend.

Und das Abstellen der Autos bedarf auch einer neuen Regelung: Konsequentes Parken in Garagen statt am Straßenrand und die Verknüpfung von Autobesitz mit nachweisbarem Garagenplatz sind da ein gar nicht so radikaler Ansatz, wenn man bedenkt, dass beispielsweise in Wien 2015 eine Berechnung aus dem Büro der damaligen Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou mehr als 650.000 Stellplätze in Garagen nachwies und die Anzahl der damals zugelassenen Pkws 681.000 betrug. Die derzeit mangelnde Sichtbarkeit von Kindern würde sich so erhöhen. Und die Kinder selbst könnten die Gefahren, die auf der Fahrbahn drohen, auch als real erkennen und nicht nur als abstrakte Warnung irgendwo im Hinterkopf mit sich herumtragen.

Erlebnisse auf dem Schulweg sind wertvoll.
Foto: Barbara Gindl

Aus Notwendigkeit die eigene Muskelkraft für die Fortbewegung zu verwenden, diese Alltagserfahrung wurde vielen Kindern und Jugendlichen genommen. Exemplarisch für so eine notwendige Strecke steht der Schulweg. Dabei ist er eine kaum zu überschätzende Gelegenheit für Bewegung und Erlebnisse. Kinder, die rund eine halbe Stunde zur Schule gehen oder auch radeln, können sich im Unterricht sogar deutlich besser konzentrieren als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, die ohne Anstrengung im Elterntaxi oder Bus gekommen sind. Studien wie das dänische "Mass Experiment" von 2012, an dem 20.000 Kinder und Jugendliche teilnahmen, belegen das. Doch wie werden die Wege, die Kinder selbstständig zurücklegen – und damit sind jetzt nicht nur die Schulwege gemeint –, nicht nur sicher, sondern auch interessant und "chillig"? Wie lassen sich die Sicherheitsbedenken von besorgten Eltern zerstreuen? Durch eine Straßengestaltung, die zum Gehen und Radfahren einlädt. Und das bedeutet breite Gehsteige, viele Bäume, geräumige Radinfrastruktur, kurze Wartezeit an den Ampeln und übersichtliche Kreuzungen.

Radfahren

Auch das Gesetz macht es Eltern und Kindern, die (allein) Rad fahren wollen, nicht leicht in Österreich. Auf Gehsteigen und Gehwegen ist das Radfahren in der Längsrichtung auch jüngeren Kindern ausnahmslos verboten. Nur den Kleinsten ist "Spielen" erlaubt, mit "fahrzeugähnlichen Bewegungsmitteln" vulgo Kinderfahrrädern mit einem Felgendurchmesser von maximal 30 Zentimetern. Eine selbstständige Fortbewegung von Kindern unter zwölf Jahren (neun mit Radfahrprüfung) auf Kinderrädern ist demnach in Österreich nicht vorgesehen.

In Deutschland dagegen dürfen Kinder ohne Mindestalter auf Gehwegen Rad fahren und schon ab acht Jahren auf der Fahrbahn fahren – selbstständig. In der Schweiz ist es Kindern sogar schon ab sechs Jahren erlaubt, auf Hauptstraßen selbstständig zu radeln. Für die übrigen Straßenkategorien ist kein gesetzliches Mindestalter für alle, die in die Pedale treten können, vorgeschrieben.

Die Radlobby Österreich tritt daher für eine Gesetzesänderung ein, die Kindern das selbstständige Radfahren auf dem Gehsteig erlaubt – eine angemessene Geschwindigkeit und den Vorrang der zu Fuß Gehenden vorausgesetzt.

Freiheit und Freiheitsgefühl, beim Radeln stimmt beides.
Foto: Robert Newald

Denn Radfahren zu können erweitert den Bewegungsradius und gibt jungen Menschen ein riesiges Stück persönlicher Freiheit. Doch nur, wenn sie sich dabei auch richtig sicher fühlen. Denn für Ungeübte ist das Rad ein wackeliges Gefährt. Wo können gerade Stadtkinder das Radfahren so lernen, dass sie sowohl das Langsamfahren im Schritttempo als auch punktgenaues Bremsen und Ausweichen perfektionieren? Freihändig fahren zu können ist auch kein Schaden. Wohnstraßen hätten da ein großes Potenzial. In fast jedem Viertel ist eine. Das ist der ideale Ort, so oft und so viel herumzukurven, dass das Fahren so natürlich wird wie das Laufen. Das alles geht sich aber nur aus, wenn Wohnstraßen von Autolenkerinnen und Autolenkern nur noch so genutzt werden, wie das Gesetz es vorsieht und wenn dort nicht mehr geparkt wird – auch um Beschädigungen an Fahrzeugen zu vermeiden.

Viele Erwachsene, die das Fahrrad in ihrem Alltag benutzen, hatten die beschriebenen Übungsmöglichkeiten. Ihr Mobilitätsverhalten und das zukünftige der Kinder und Jugendlichen von heute ist ein wichtiger Puzzlestein für Lebenszufriedenheit und Lebensqualität in den Städten. Und im Kampf gegen den Klimawandel sowieso.

Die Meinung der Kinder

Die Meinung der Kinder selbst wird in Artikel 12 der Kinderrechtskonvention thematisiert. Dort heißt es, "dass dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zugesichert wird, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und der Staat berücksichtigt die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife".

Befragt man Kinder zum öffentlichen Raum vor der Wohnung oder der Schule, kommen viele Verbesserungsvorschläge und Ideen, was sie auf einem autobefreiten Platz alles machen würden. In über tausend Workshops wurden heuer in Wien Meinung und Wünsche von Kindern erhoben und versprochen, sie für zukünftige Planungen ernst zu nehmen.

Platzmangel oder gehegtes und gepflegtes Aufwachsen?
Foto: derStandard.at/eder

Noch schaut die Realität anders aus: Zu ihrem eigenen Schutz werden Kinder eingehegt. Umzäunte Spielplätze sind auch ein Ergebnis jahrzehntelanger autozentrierter Stadtplanung. Grüne Plastikmatten oder Rindenmulch bedecken dort den Boden, denn die intensive Nutzung durch unzählige Kinderfüße lässt kein Gras mehr wachsen. Daneben gibt es ohne organisatorischen Aufwand durch die Eltern kaum Alternativen fürs Einfach-mal-Rauskommen inklusive Erfahrungensammeln und Spaßhaben abseits der allgegenwärtigen Aufsicht durch Erwachsene. Dafür ist schon seit Jahrzehnten kein Platz mehr auf unseren Straßen. Und auch nicht in unseren Köpfen. Denn ein Straßenkind will niemand haben. Straße bedeutet Gefahr.

Aber nicht mehr überall. Der 2013 mit der Wiener Mariahilfer Straße eingeläutete Paradigmenwechsel beginnt zu wirken. In immer mehr Städten sprießen die Begegnungszonen – zwar nicht wie die Schwammerln, aber sie sprießen. (Reinhilde Becker, 20.11.2019)