Im Gastkommentar setzt sich der Politikwissenschafter Minxin Pei mit Xi Jinpings Plänen für ein "neues Hongkong" auseinander. Diese könnten dazu führen, dass China einen großen Teil seines Zugangs zum globalen Finanzsystem verliert.

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Diesem Studenten ist die Polizei auf den Fersen. Am Montag versuchten Aktivisten, Absperrungen rund um eine Universität zu durchbrechen.
Foto: Reuters/Tyrone Siu

Obwohl die rapide Eskalation der Gewalt in Hongkong bereits schrecklich genug erscheint, könnten die Dinge noch viel schlimmer kommen. Die Verlautbarung der kürzlich abgehaltenen vierten Generalversammlung des 19. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) deutet darauf hin, dass der chinesische Präsident Xi Jinping plant, seine Kontrolle über die ehemalige britische Kolonie um jeden Preis zu verstärken. Er sollte aber damit rechnen, dafür einen erheblichen Preis zahlen zu müssen.

Die Verlautbarung enthält zwei beunruhigende Absichten: Erstens soll die chinesische Zentralregierung Hongkong (und Macau) „kontrollieren und regieren“, indem sie „alle ihr im Rahmen der Verfassung und dem Grundgesetz gegebene Macht“ dafür einsetzt. Damit ist die Art Miniverfassung gemeint, in der Hongkongs Status festgelegt ist. Zweitens will sie in den beiden Sonderverwaltungszonen „ein Rechtssystem und einen Durchsetzungsmechanismus aufbauen und verstärken, um die nationale Sicherheit zu verteidigen“.

Mehr Kontrolle

Noch klarer wurde dieser Plan der KPC einige Tage nach der Versammlung, als der vom Zentralkomitee bewilligte vollständige Wortlaut der Resolution veröffentlicht wurde. Die chinesische Zentralregierung beabsichtigt, den Prozess der Ernennung der Regierung und der führenden Beamten Hongkongs zu ändern. Ebenso will sie das System reformieren, nach dem die Ständige Kommission des chinesischen Nationalen Volkskongresses das Grundgesetz interpretiert. Darüber hinaus soll China die exekutiven Möglichkeiten Hongkongs fördern und gewährleisten, dass die städtische Regierung Gesetze zur Verbesserung der nationalen Sicherheit beschließt. Ferner soll die wirtschaftliche Integration Hongkongs mit dem Festland vertieft und die „Ausbildungsprogramme“ erweitert werden, um ein „nationales Bewusstsein und einen patriotischen Geist“ zu kultivieren – insbesondere unter Beamten und jungen Menschen.

Auch wenn die Details des Plans noch offen sind, scheint es klar, dass die chinesischen Politiker beabsichtigen, das Grundgesetz zu demontieren, mehr Kontrolle über die Ernennung leitender Beamter auszuüben, Hongkongs juristische Unabhängigkeit zu schwächen oder gar abzuschaffen und politische Abweichungen zu unterdrücken – unter anderem durch ideologische Indoktrinierung. Mit anderen Worten, sie planen, sich vom „Ein Land, zwei Systeme“-Modell zu verabschieden – dem Modell, das laut Deng Xiaopings Versprechen eigentlich 50 Jahre nach der Rückgabe von Hongkong an die Chinesen im Jahr 1997 beibehalten werden sollte.

Mächtige Widerstände

Dabei müssen die chinesischen Politiker aber wissen, dass sie gegen mächtige Widerstände arbeiten. Auch wenn manche einleitende Schritte in Peking stattfinden, müssen die meisten wesentlichen Maßnahmen des Plans in Hongkong vor Ort durchgeführt werden. Und wenn die andauernden Proteste eines gezeigt haben, ist es, dass sich die Menschen dort nicht kampflos ergeben werden.

Tatsächlich hat China bereits 2003 versucht, den Legislativrat Hongkongs zur Verabschiedung von Gesetzen zur nationalen Sicherheit zu bewegen, aber damals gingen über eine halbe Million Bürger auf die Straße und zwangen die Regierung, den entsprechenden Gesetzesbeschluss zurückzuziehen. Und Chinas Versuch von 2012, durch den Austausch der Geschichtsbücher „patriotische Erziehung“ in Hongkong einzuführen, löste unter Eltern und Schülern eine Rebellion aus, die die Regierung zum Rückzug zwang.

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Demonstranten werden aus dem Campus der Polytechnischen Universität Hongkong eskortiert.
Foto: Reuters / Thomas Peter

Noch mehr Gewalt

Versucht die KPC, die totale Kontrolle über Hongkong zu erreichen, führt dies wahrscheinlich zu noch größeren Demonstrationen mit noch mehr Gewalt. Die Stadt wird weiter ins Chaos abgleiten und unregierbar werden. Aber genau dies könnte es sein, was die chinesischen Politiker wollen: einen Vorwand dafür, Sicherheitskräfte einzusetzen und die vollständige Macht über die Stadt zu übernehmen. In diesem Sinne könnte die vierte Generalversammlung den Anfang vom Ende des Hongkong einläuten, das wir kennen.

Allerdings scheinen Xi und die KPC nicht zu verstehen, wie sehr ihnen dieser Ansatz schaden wird. Immerhin werden andere Länder ihre Beziehungen zum neuen Hongkong überdenken, und so könnte China einen großen Teil seines Zugangs zum globalen Finanzsystem verlieren.

Neue Sanktionen

Bereits jetzt hat das US-Repräsentantenhaus ein Gesetz verabschiedet, das – wenn es vom Senat gebilligt wird – das US-Außenministerium verpflichtet, jährlich zu untersuchen, ob Hongkong immer noch autonom genug ist, um seinen durch US-Gesetze festgelegten Sonderhandelsstatus zu rechtfertigen. Tritt die chinesische Zentralregierung Hongkongs Rechte mit Füßen, werden wohl auch andere westliche Demokratien gemeinsame wirtschaftliche Sanktionen unterstützen – auch jene Länder, die bislang gezögert haben, der Eindämmungspolitik von US-Präsident Donald Trump gegenüber China zu folgen.

Für Xi und die KPC, deren Legitimität auf dauerhaftem wirtschaftlichem Wachstum und ständiger Verbesserung des Lebensstandards beruht, wäre dies offensichtlich eine katastrophale Entwicklung. Aber in einem Land, dessen oberste Führung keine abweichenden Meinungen erlaubt, gibt es nur wenig Schutz gegen schlechte Politik.

Vor zwei Jahren erklärte Xi, China solle zur Hundertjahrfeier der Volksrepublik im Jahr 2049 ein „großes, modernes sozialistisches Land“ mit einer fortgeschrittenen Wirtschaft sein. Dieses Ziel wurde auch durch die Verlautbarung der vierten Generalversammlung bestätigt. Bricht die chinesische Zentralregierung aber ihre Versprechen gegenüber Hongkong, wird sich dieses Ziel wahrscheinlich als schöner Traum erweisen. (Minxin Pei, Übersetzung: Harald Eckhoff, Copyright: Project Syndicate, 19.11.2019)