In diesem Beitrag möchte ich eine Bogen zwischen meinen beiden beruflichen Tätigkeiten spannen. Während ich auf der einen Seite Nachhilfelehrer aus Leidenschaft bin, beschäftige ich mich in meinem Brotberuf mit Gesundheitsförderung in unterschiedlichen Settings: In Gesunden Gemeinden und Gesunden Schulen wie auch im betrieblichen Kontext, also am Arbeitsplatz. Wenn man sich einmal damit abgefunden hat, dass Gesundheit nicht bloß das Fehlen von Krankheit ist, kann man sich durchaus mit dem salutogenetischen Ansatz von Aaron Antonovsky (1923-1994) beschäftigen. Im Gegensatz zur Pathogenese fragen wir also nicht, wie Krankheit entsteht, sondern suchen Faktoren, "die zur Entstehung und Erhaltung von Gesundheit führen". 

Was hat das Ganze nun mit Nachhilfe und dem Mathematikunterricht zu tun? Das Kernstück der Salutogenese ist das sogenannte Kohärenzgefühl, das sich aus drei Komponenten zusammensetzt: dem Gefühl, Zusammenhänge zu verstehen; dem Vertrauen darauf und der Überzeugung, das eigene Leben gestalten und bewältigen zu können; der Überzeugung, dass das Leben einen Sinn hat. 

Lernstoff hinterfragen

Wenn wir in dieser Definition das Wort "Leben" mit "Lernen" ersetzen, dann adressieren wir damit das Verständnis, die Handhabbarkeit und die Sinnhaftigkeit auf Schülerseite, wenn es um Unterrichtsinhalte geht. Und gerade in der gymnasialen Oberstufe fragen sich Schüler und Schülerinnen immer wieder, was das genau sei, was sie da lernen sollen.
"Und wozu brauch ich das?", platzte es vor kurzem aus einem 16-jährigen Gymnasiasten heraus. Ich war von dieser Form der Ehrlichkeit durchaus überrascht, da ich fix davon ausgehe, dass in seinem Mathematikunterricht für so eine Frage kein Platz ist. Oder dass man es nicht riskiert, so eine Frage zu stellen.

Und gerade das Hinterfragen des Lernstoffes und seiner Sinnhaftigkeit oder auch Anwendbarkeit verlangt von uns Lehrenden, dass wir ehrliche und möglichst zufriedenstellende Antworten aus dem Hut zaubern. Wozu braucht wer tatsächlich welchen Stoff? Mit schulmathematischem Tunnelblick scheint jedes Kapitel wirklich und absolut logisch mit anderen Kapiteln in Verbindung zu stehen. Mit Blick auf das echte Leben außerhalb der Schule relativiert sich so manches Stoffgebiet, da der größere Teil unserer Maturanten und Maturantinnen diese Inhalte nie mehr wieder brauchen wird.

Ok was?
Foto: istockphoto.com/de/portfolio/ismailciydem

Die Krot fressen

Was ist jetzt die richtige oder zumindest ehrliche Antwort auf die zuvor gestellte Frage? Aus meiner langjährigen Erfahrung als Nachhilfelehrer heraus würde ich nun behaupten, dass weniger die Antwort selbst der Punkt ist, sondern vielmehr die Art und Weise, wie ich als Erwachsener und Lehrer die Antwort gebe. Nämlich ehrlich. Auf der einen Seite versuche ich also für Orientierung zu sorgen und bette den neuen Stoff im Kontext der gymnasialen Oberstufe ein und schlage Brücken zu verwandten Themen. Auf der anderen Seite dürfen Mathematiklehrer so (selbst-)kritisch zu ihren eigenen Lehrplaninhalten sein, dass sie wissen, dass es noch ein Leben "außerhalb der Schulmathematik" gibt. Sprich: Man wird das Thema wahrscheinlich nie wieder brauchen, aber für eine bestandene Matura muss man auf gut österreichisch eben "die Krot fressen". Zwischendurch fühle ich mich an meine Zeit beim Österreichischen Bundesheer erinnert, wo es hieß: "Offiziere und Unteroffiziere helfen dir Probleme zu lösen, die du ohne sie nie gehabt hättest." Gewisse Parallelen lassen sich da nicht leugnen.

Persönlich finde ich, dass unsere Schüler (vor allem aber der Oberstufe) ein Recht darauf haben, zu erfahren, was, warum und wann unterrichtet wird. Bei jeder Fortbildung in der "Erwachsenenwelt" gibt es zu Beginn einen Überblick über die kommenden Inhalte, damit Orientierung stattfinden kann. Warum sollte das in der "Schülerwelt" nicht möglich sein? Gerade mit ein bisschen Erfahrung lässt sich locker ein Überblick schaffen, damit die Schüler schon währenddessen die Chance haben, zu sehen, wo denn die Reise hingeht. Schaff ich, schafft jeder.

Treppe nehmen

Was mich dann immer wieder erstaunt, zeigt folgendes Zitat eines 14-jährigen Gymnasiasten: "Unser Lehrer hat gesagt, das müssen wir nicht verstehen, sondern nur lernen!" Gerade in der Schulmathematik baut quasi alles aufeinander auf und jeder weitere Schritt lässt sich anhand des vorangegangenen erklären. Mathematische Herleitungen sind oft gut gemeint, bewirken aber meist das Gegenteil: Nämlich, dass ein neues Stoffgebiet bereits kompliziert anfängt, bevor man kapiert, wozu man das eigentlich lernt. Am Beispiel der Herleitung der quadratischen Lösungsformel sehe ich das leider immer wieder. Noch schlimmer ist es, wenn Zeit damit verschwendet wird, mathematische Merksätze und Zusammenfassungen aus dem Buch ins Heft zu schreiben. Das bringt vor allem dem Lehrer ruhige fünf Minuten. Sonst leider niemanden etwas.

Ein zweites Praxisbeispiel erscheint mir zum Thema Handhabbarkeit erwähnenswert. Eine damals 15-jährige Gymnasiastin (heute längst eine erfolgreiche Studentin) sagte im Gespräch zum Thema achte Klasse und Matura zu mir, dass sie wahrscheinlich "eh nie soweit kommen wird". Keinem Schüler würde es einfallen, seinen oder ihren Schulabschluss aufgrund von Biologie oder Englisch infrage zu stellen. Es kann doch nicht die Aufgabe der Schulmathematik sein, als vielzitiertes Angstfach für eine "natürliche" Auslese zu sorgen. Mathematik ist natürlich ein anderes Fach als Geschichte oder Geografie und nicht grundlos das Nachhilfefach Nummer eins. Große Stofflücken und fehlendes Verständnis sind vielerorts Hürden, für die sich das Schulsystem nicht wirklich zuständig fühlt.
 
"Es gibt keinen Fahrstuhl zum Erfolg. Man muss die Treppe nehmen!" Diesen Leitspruch verwende ich gerne meinen Schülern gegenüber. Die Quintessenz ist folgende: Du musst deinen Beitrag leisten und habe Vertrauen darin, dass es machbar ist.

Was sagen die Lehrenden?

Am Ende dieses Beitrags möchte ich gerne die Lehrenden unter den Usern im Forum fragen, wie sie mit den Schlüsselbegriffen Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit im Unterricht umgehen. Gibt es Platz für kritisches Nachfragen und die persönliche Auseinandersetzung auf Schülerseite? Oder wird das lediglich als "aufmüpfiges Verhalten" abgetan? Was kann eine Gender-Perspektive diesbezüglich beitragen: Dass Mädchen angepasster seien, weil sie durch ihr Schweigen etwa Zustimmung signalisieren würden? Dass Buben aktiver und vermeintlich ablehnender auftreten? Fragen über Fragen. Vielleicht finden wir ein paar Antworten. (Rainer Saurugg, 25.11.2019)

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