Flucht aus der Milchstraße: die prognostizierte Bahn von S5-HVS1 in die Leere.
Illustration: Sergey Koposov

Geschwindigkeitsüberschreitung mit Folgen: Im Sternbild des Kranichs haben Astronomen einen Stern gesichtet, der mit dem bemerkenswerten Tempo von über sechs Millionen km/h dahinzieht. Damit ist der Stern mit der Bezeichnung S5-HVS1 etwa zehnmal so schnell unterwegs wie die Mehrheit der Sterne in der Milchstraße.

Für S5-HVS1 bedeutet das, dass er die sogenannte vierte kosmische Geschwindigkeit überschreitet, also die Fluchtgeschwindigkeit aus der Milchstraße. "Es ist unvermeidlich, dass er die Galaxis verlassen und nie wieder zurückkehren wird", sagt Douglas Boubert von der Universität Oxford, Koautor der Studie, in der der Stern im Fachjournal "Monthly Notices of the Royal Astronomical Society" vorgestellt wurde.

Der Ursprung der rasenden Sterne

Entdeckt wurde der Raser, der sich derzeit etwa 29.000 Lichtjahre von der Erde entfernt befindet, durch Beobachtungen des Anglo-Australian Telescope in New South Wales und des Gaia-Satelliten der ESA. Seine Bezeichnung setzt sich aus dem Kürzel "S5" für das alliterationsfreudige Astronomieprogramm "Southern Stellar Stream Spectroscopic Survey" sowie aus der Abkürzung "HVS" für "hypervelocity star" zusammen.

Bislang hat man knapp zwei Dutzend solcher Hochgeschwindigkeitssterne gesichtet. Schätzungen von Astronomen zufolge könnte es etwa 1.000 von ihnen in der Milchstraße geben. Angesichts einer Gesamtzahl von weit über 100 Milliarden Sternen handelt es sich also um ein sehr seltenes Phänomen.

Dass sich die Raser vermehrt in der Nähe des Milchstraßenzentrums finden, dürfte alles andere als ein Zufall sein. Astronomen gehen davon aus, dass alle diese Sterne von derselben Kraft hinausgeschleudert wurden: Sagittarius A*, dem supermassereichen Schwarzen Loch im Zentrum der Milchstraße. Mit einer Masse, die 4,1 Millionen Mal größer ist als die der Sonne, ist es ein Faktor, der alle anderen in seiner Umgebung dominiert.

Einst bildeten zwei Sterne ein Doppelsystem – durch den Schwerkraftgiganten Sagittarius A* wurden sie getrennt.
Illustration: James Josephides (Swinburne Astronomy Productions)

Den hypothetischen Ablauf hat der Astronom Jack G. Hills bereits in den 1980er Jahren beschrieben: Demnach würde ein Doppelsternsystem dem Schwarzen Loch so nahe kommen, dass es durch die Gezeitenkräfte entzwei gerissen wird. Einer der beiden Sterne wird in einen Orbit um das Schwarze Loch gezwungen, während sein ehemaliger Partner davongeschleudert wird.

Sergey Koposov von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh, Hauptautor der aktuellen Studie, sieht S5-HVS1 als ersten eindeutigen Beleg für den Hills-Mechanismus. Sein Team hat den Weg des rasenden Sterns rekonstruiert und festgestellt, dass er tatsächlich aus dem Milchstraßenzentrum kommt. Das Ereignis, durch das ihm eine Zukunft in der Einsamkeit des intergalaktischen Leerraums bevorsteht, hat demnach vor etwa fünf Millionen Jahren stattgefunden. (jdo, 25. 11. 2019)