Gewalt in der Erziehung ist in Österreich gesetzlich verboten. Das weiß aber nur etwa die Hälfte der Bevölkerung. Dabei war Österreich das vierte von aktuell 33 Ländern – nach Schweden (1979), Finnland (1983) und Norwegen (1987) –, die ein Gewaltverbot einführten. Im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) heißt es, dass "die Zufügung körperlichen und seelischen Leides unzulässig ist". Hausarrest, emotionale Erpressung und Ignorieren zählen ebenfalls zu psychischer Gewalt und können für die Kinder verheerende Folgen haben. Martina Wolf ist Geschäftsführerin im Bundesverband Österreichischer Kinderschutzzentren und hat anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der UN-Kinderrechtskonventionen mit dem STANDARD über fehlendes Bewusstsein und politische Mängel gesprochen.

Mit ihm zur Strafe über einen langen Zeitraum nicht zu sprechen kann für das Kind sehr bedrohlich sein, weil es zu hundert Prozent auf seine Eltern und ihr Wohlwollen angewiesen ist.

STANDARD: 1989 wurde auf internationaler Ebene die UN-Kinderrechtskonvention verabschiedet. Im selben Jahr hat Österreich Gewalt in der Erziehung gesetzlich verboten. Hat dadurch ein Umdenken in der Bevölkerung stattgefunden?"

Wolf: Es hat sich viel getan in diesen 30 Jahren. Studien zeigen, dass körperliche Gewalt deutlich weniger akzeptiert ist als vor der gesetzlichen Regelung – als bewusstes Erziehungsmittel, aber auch in der verharmlosenden Form, sprich "wenn einem hie und da die Hand ausrutscht". Das Bewusstsein geht klar in Richtung gewaltfreie Erziehung.

STANDARD: 1977 gaben 85 Prozent der Österreicher an, dass "ein keiner Klaps ab und zu keinem Kind schadet". 2019 waren es nur noch zwölf Prozent. Ist die "gesunde Watsch'n" somit fast ausgestorben?

Wolf: Ausgestorben ist die "ung'sunde Watsch'n" leider immer noch nicht. Sie ist weniger geworden, und sie ist gesellschaftlich weit weniger akzeptiert als vor dem gesetzlichen Gewaltverbot, aber sie passiert immer noch. In der aktuellen Gewaltstudie des Bundeskanzleramtes sind es noch drei bis neun Prozent der Eltern, die es für angemessen halten, "Kinder zu züchtigen". Das sind immerhin 180.000 bis 540.000 Personen in Österreich. Ziel ist auch bei dieser Gruppe eine Einstellungsänderung zu bewirken.

STANDARD: In der Gewaltstudie 2019 heißt es auch, dass 53 Prozent der Bevölkerung wissen, dass es ein Gewaltverbot gibt. 2009 waren es in einer ähnlichen Studie nur 42 Prozent. Zumindest scheint der Bevölkerung langsam bewusst zu werden, dass es verboten ist, Kinder zu schlagen. Wie ist es um das Bewusstsein über psychische Gewalt bestellt?

Wolf: Bei psychischer Gewalt als Erziehungsmittel sieht die Sache anders aus. Abwertung, Manipulation, Beschämung, Liebesentzug, Anschweigen und Ignorieren, dem Kind Angst machen, es unter Druck setzen, Anschreien und Beschimpfen, Isolieren. All diese Dinge sind auch eine Art von Gewalt. Psychische Gewalt ist aber auch, wenn Kinder in Trennungskonflikten und Streitereien ihrer Eltern zerrieben werden oder Gewalt zwischen den Eltern miterleben. In der Studie der möwe von 2016 haben nur 26 Prozent das Szenario: "Eltern sprechen zur Strafe länger nicht mehr mit ihrem achtjährigen Kind" eindeutig als Gewalt beurteilt. Viele Eltern wissen also also nicht, was gewaltfreie Erziehung bedeutet. Hier braucht es noch deutlich mehr Bewusstseinsbildung.

STANDARD: Psychische Gewalt hinterlässt keine sichtbaren Narben. Was können die Folgen sein, wenn eine Bezugsperson mit dem Kind zur Strafe nicht mehr spricht oder damit droht, dass man es nicht mehr liebt, wenn es nicht gehorcht.

Wolf: Damit entziehen Eltern dem Kind etwas Zentrales im Leben: die Beziehung zu seinen wichtigsten Menschen. Das stürzt Kinder in eine große Not. Genau diese Menschen, für die sie gerade "unsichtbar" sind, sind im Grunde jene Personen, bei denen sie Schutz und Sicherheit suchen, wenn sie Angst und Kummer haben. Das kann einerseits das Selbstwertgefühl des Kindes schädigen, aber auch zu anderen Symptomen führen: Kinder, die psychische Gewalt erleben, können sich zurückziehen, Ängste entwickeln oder aggressiv reagieren. Psychosomatische Symptome wie Schlafstörungen, Ticks oder Kopfschmerzen können auftreten. Entwicklungsstörungen, Persönlichkeitsstörungen und Depressionen können Folgen sein.

STANDARD: Ein Beispiel: Das Kind weigert sich, für eine Schulprüfung zu lernen. Ich ermahne es als Elternteil, dass es zwei Wochen Hausarrest bekommt, wenn es durch die Prüfung fällt. Ist das schon Gewalt?

Wolf: Natürlich kommt es immer darauf an, wie es dem Kind dabei geht. Wenn es zum Beispiel noch jünger ist und durch diese Drohung Angst bekommt, es unter Druck gesetzt wird und dann tatsächlich als Strafe zwei Wochen von der Außenwelt und den Freunden isoliert sein muss, dann kann man von physischer Gewalt sprechen.

STANDARD: Das Familienministerium hat auf der Website gewaltinfo.at definiert, was gewaltfreie Erziehung bedeutet. Unter anderem steht dort geschrieben, dass man dem Kind auch Grenzen setzen soll und "gewaltfreie Strafen" erlaubt sind. Was wäre denn eine gewaltfreie Strafe?

Wolf: Werden gar keine Grenzen gesetzt, spürt das Kind die Beziehung und den Halt nicht, was eine Form von Vernachlässigung sein kann. Für mich ist etwas, das "Strafe" heißt, nie gewaltfrei. Strafen bedeutet ja, dem Kind eine Lehre zu erteilen, indem ich entweder etwas Unangenehmes "hinzufüge" oder etwas Angenehmes "wegnehme". Klassiker wie Hausarrest, Handyverbot oder Fernsehverbot wären vor diesem Hintergrund nicht gewaltfrei. Ein alternativer Zugang: "Wenn du deine Hausübung nicht organisieren kannst, helfe ich dir und kontrolliere, bis du es schaffst." Das wäre ein klarer Rahmen, zwar auch nicht unbedingt angenehm für das Kind, aber im Kontext gewaltfrei. Ein anderes Beispiel, um zu veranschaulichen, wie wichtig Grenzen sind: wenn das kleine Kind dem Elternteil auf der Straße immer wegläuft, und dieser besteht darauf, dass es an der Hand geht, bis es eben nicht mehr wegläuft. Diese Maßnahme ist wahrscheinlich nicht "angenehm" für das Kind, aber im Kontext gewaltfrei und dringend notwendig zu seinem Schutz.

STANDARD: Im aktuellen ergänzenden Bericht an die den UN Kinderrechtsausschuss steht auch, dass Gewalt an Kindern in Österreich kaum mehr als bewusst gewählte Maßnahme, jedoch aus Überforderung der Eltern entsteht. Bedeutet das, dass entlastete Eltern auch liebere Eltern sind?

Wolf: Wenn man wenig Unterstützung hat, eskaliert man mitunter schneller. Das ist aber nur eine Sichtweise. Eine andere, viel aufklärendere: Eltern wollen ihren Kinder nichts Böses tun. Sie wissen oft nur nicht, wie das Gute aussieht. In der aktuellen Gewaltstudie wurde präsentiert, dass 80 Prozent der Eltern selbst Gewalt als Kind erlebt haben. Davon 45 Prozent sogar schwere Gewalt. Was heißt das nun für den Umgang mit den eigenen Kindern? In Stress- und Überforderungssituationen kann es passieren, den eigenen Kindern mit Gewalt zu begegnen. Natürlich geschieht das alles unterbewusst. Wenn Eltern solche Situationen reflektieren, sind sie oft von ihrem eigenen Verhalten erschrocken – nach dem Motto "So wollte ich nie sein".

STANDARD: Was brauchen Eltern und Kinder, damit sie den gewaltfreien Weg wählen können?

Wolf: Kinder zu begleiten ist anstrengend und für Eltern ein 24-Stunden-Job. Man braucht andere Menschen, die ihnen zur Seite stehen und sie in ihrer Aufgabe begleiten, qualitative Kinderbetreuung und auch Elternbildung. Wir merken oft, dass manchmal alleine ein Verstehen des kindlichen Verhaltens hilft. Natürlich hilft auch Entlastung bei Dingen, die zusätzlich großen Stress erzeugen, wie finanzielle Sorgen, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Paarkonflikte oder Partnergewalt. Hier ist auch der Gesetzgeber gefordert. Denn auf der einen Seite wird klar definiert, was das Kindeswohl fördert, auf der anderen werden aber nicht die Rahmenbedingen für die Eltern geschaffen, um dies zu ermöglichen. Sehr belastete Familien brauchen von Anfang an Unterstützung, Stichwort Frühe Hilfen.

STANDARD: Wo können sich überforderte Bezugspersonen melden, die in der Erziehung Hilfe brauchen?

Wolf: Die Hauptzuständigkeit in solchen Fällen liegt bei der Kinder- und Jugendhilfe, die in den jeweilige Bundesländern verschiedene Beratungsangebote und Unterstützungsleistungen für Familien installieren kann. In manchen Bundesländern, beispielsweise in Wien, gibt es von der Kinder- und Jugendhilfe auch geführte Familienzentren. Hilfe finden Familien österreichweit in den Österreichischen Kinderschutzzentren, die private Träger der Kinder- und Jugendhilfe sind. Wichtige Partner sind auch die Österreichischen Familienberatungsstellen, es gibt Elternbildungs- und Beratungsangebote – Elternbildung und Beratung in öffentlichen und privaten Eltern-Kind-Zentren. Bei Rat auf Draht unter der Nummer 147 finden Familien eine 24-Stunden-Hotline. Die ist anonym und kann genauso wie die Kinder- und Jugendanwaltschaft eine Anlaufstelle für die Kinder selbst sein.

STANDARD: Manche Eltern haben vielleicht Angst, sich Hilfe zu holen. Vielleicht weil sie denken, man würde ihnen dann die Kinder wegnehmen.

Wolf: Diese Angst, sich Hilfe zu holen, ist uns bekannt. Dabei möchte ich ganz klar sagen, dass es vielen Eltern ähnlich geht. Man ist nicht alleine mit diesem Thema. Die Kinder- und Jugendhilfe hat viele Möglichkeiten, um Eltern zu unterstützen. Die Abnahme eines Kindes ist dabei der letzte Schritt.

Wichtig ist uns, bevor sich Familien gar keine Hilfe holen und immer mehr in die Überforderung rutschen, dass sie in einem Kinderschutzzentrum anrufen oder in akuten Situationen, etwa in der Nacht, bei Rat auf Draht. Das geht auch anonym.

STANDARD: Die Frage taucht immer wieder bei uns in den Foren auf: Wenn ich mitbekomme, wie jemand, etwa ein Nachbar, grob und aggressiv mit dem Kind umgeht, was soll ich tun?

Wolf: In besonders schlimmen akuten Fällen, wenn man befürchtet, dass es in der Familie zu körperlicher Gewalt kommt und man die Situation als gefährlich einschätzt, ist s wichtig, einfach die Polizei anzurufen. Wenn man sich unsicher ist und hört, dass in der Wohnung Kinder sind, die ständig schreien und weinen, oder Eltern, die permanent brüllen, kann man auch einmal anklopfen und fragen, ob man helfen kann. In weniger akuten Situationen, wie die oben beschriebene, und jemand erlebt, wie die Nachbarsfamilie latent lieblos und grob mit den Kindern umgeht, ist eine Meldung bei der Kinder- und Jugendhilfe das Mittel der Wahl.

STANDARD: Was macht man, wenn man am Spielplatz oder auf Straße Übergriffe beobachtet?

Wolf: Gewalt gegen Kinder ist nicht Sache der Familie und es braucht die Zivilcourage anderer. Die wichtigsten Fragen sind: "Gefährde ich mich, durch eine Intervention", und wenn nicht: "Was verträgt der Kontext, und was kann deeskalierend wirken?" Eine Konfrontation kann es oft nicht und geht am Ende immer wieder zulasten des betroffenen Kindes. Trotzdem muss und wird manchmal konfrontiert werden, damit die Gewalt gegen das Kind aufhört.

STANDARD: Die Umsetzung der Kinderrechtskonvention wird ungefähr alle fünf Jahre von den Vereinten Nationen überprüft, derzeit auch in Österreich. Wie gut oder schlecht stehen wir da?

Wolf: Wir haben eine Menge Probleme bei der Umsetzung der Kinderrechte in Österreich. Es gibt seitens der politisch Verantwortlichen immer wieder ein Bekenntnis zu den Kinderrechten – die gelebte Realität und Gesetzgebungen jedoch hinken deutlich hinter den Bekenntnissen her. Da Österreich föderalistisch regiert wird, finden Kinder unterschiedliche Bedingungen vor, je nachdem, in welchem Bundesland sie leben. Ist der Kindergartenplatz öffentlich finanziert? Wie sind die Regelungen für Familien mit Migrationshintergrund, welche Angebote gibt es für Kinder mit Behinderung?

Seit etwa einem Jahr trifft dies auch voll den Kinderschutz und die Kinder- und Jugendhilfe. 2018 wurde die Kompetenz der Kinder- und Jugendhilfe fast völlig aus der Verantwortung des Bundes gelöst und in die Länderverantwortung geschoben. Damit wurde das Kinder- und Jugendhilfegesetz 2013 so gut wie abgeschafft. Für den Kinderschutz befürchten wir einen deutlichen Qualitätsverlust, der zulasten der von Gewalt betroffenen Kinder geht. Die umfassenden Berichte der NGOs zur Situation der Kinderrechte in Österreich sind im aktuellen "Ergänzenden Bericht" im Detail beschrieben – wir habe die Kapitel Kindeswohl und Gewalt mit jeweils einer anderen Organisation verfasst. (Nadja Kupsa, 20.11.2019)