Die drei Todsünden des Nichtitalieners: Spaghetti mit dem Löffel aufrollen. Brot in Olivenöl tunken. Abendlicher Aperitivo vor 19 Uhr. Elf Uhr morgens hingegen geht total in Ordnung. Wichtig ist, dass danach eine Mahlzeit folgt oder dieses Vorhaben wenigstens existiert.

Mitten am Tag hingegen sitzt man in einem venezianischen Bacaro, wie die ortstypischen Weinlokale heißen, mit hoher Wahrscheinlichkeit alleine da. Was gut ist, wenn man den Markusplatz-Selfiestick-Touristen entfliehen will. Es geht allerdings zulasten dessen, was den Aperitivo ausmacht: gesellige Lebensfreude.

Einige dieser Bacari – der Name leitet sich ab vom Weingott Bacchus – genießen Kultstatus. La Cantina etwa oder Vino Vero. Beide befinden sich im Centro Storico, auf der Hauptinsel der 260.000-Einwohner-Stadt. Venedig nennt sich die Wiege der Aperitivo-Kultur. Ebenso Mailand und Turin (die weltweit ausgetragenen Streitigkeiten darüber, wer was erfunden hat, könnten Bücher füllen).

Sprizz

Aus dem Lateinischen übersetzt bedeutet aperire öffnen. Gemeint ist das magenöffnende, also appetitanregende Zusammenkommen am frühen Abend, auf einer Piazza, im Garten, bei schlechtem Wetter drinnen. Man trinkt leichte, speziell auf diesen Anlass hin zugeschnittene Cocktails, wobei einer davon es zu Weltruhm gebracht hat.

Wer heute in Venedig einen Sprizz bestellt, bekommt allerdings keinen G’spritzten – der heute Sprizz bianco oder liscio heißt und im 19. Jahrhundert für die Alpenländer erfunden wurde, als Norditalien noch zu Österreich gehörte –, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Prosecco-Aperol.

Den trinken sie in der norditalienischen Bilderbuchstadt an jeder Ecke, rund um die Uhr, sogar zum Essen. Touristen eben. Dabei ist der Aperol Spritz mittlerweile ein weltweites Phänomen.

Kein reiner Zufall: 2004 nahm der Campari-Konzern den bis dato eher unbedeutenden Rhabarberbitter in sein Portfolio auf und bewarb ihn mit einer groß angelegten Kampagne. Sie hat Wirkung gezeigt. Aperol Spritz gehört heute zum amerikanischen Barbecue genauso dazu wie zum norddeutschen Junggesellenabschied.

Bitte zugreifen!

Ach, würde dasselbe doch den Cicchetti widerfahren! Denn während man hierzulande mit Glück ein paar Erdnussflips hingestellt bekommt, zelebrieren die Italiener ihren Aperitivo mit einer eigenen Kulinarik. Verwandt sind diese Häppchen mit den spanischen Tapas.

Während man sich im übrigen Italien an einem im Getränkepreis inbegriffenen Buffet bedient, bezahlt man in Venedig nach Stück, ein Euro fünfzig im Durchschnitt. Völlig zu Recht, schließlich handelt es sich um eigenständige, kleine Gerichte.

Neben gefüllten Oliven und hartgekochten Eiern gibt es zum Beispiel Tramezzini oder geröstete Brotscheiben mit Sepia, auf einem Polentabett ruhendes Gemüse, Mortadella und luftgetrocknete Salami, Thunfischkroketten, eingelegte Anchovis, gegrillte Auberginen und jene Artischocken, für die das Veneto so bekannt ist.

Aperol Spritz ist mittlerweile ein weltweites Phänomen.
Foto: Getty Images/iStockphoto/diamant24

Auch wenn inzwischen sogar manche Osteria einen Aperitivo serviert, ist der klassische Ort dafür das Bacaro, erkennbar an den zahlenmäßig bescheidenen Sitzgelegenheiten und der den Bartresen entlang verlaufenden Glasvitrine, wo besagte Cicchetti zahlreich ausliegen. Ähnlich zahlreich ist die Anzahl an Spritzvariationen, von Bols und dem Artischockenlikör Cynar über Triple Sec und Minzsirup bis hin zum Kräuterlikör Select. Wer den bestellt, geht schon fast als Einheimischer durch.

Eine sichere Nummer ist auch der Negroni. Sein Name geht zurück auf den gleichnamigen Grafen, der sich seinen Americano – ein Drink aus Campari, Wermut und Soda – stärker wünschte. Der Bartender im Caffè Cassoni in Florenz tauschte das Soda gegen Gin und schuf so den italienischen Klassiker schlechthin.

Wer keine Lust auf Getränke in radioaktiven Farben hat, bestellt einen Ombra, wie der in einfachen Gläsern servierte Hauswein heißt, der durchaus in einem Zug geleert werden darf. Übersetzt bedeutet der Begriff Schatten und spielt auf jene venezianischen Verkaufsstände an, die immer wieder so bewegt wurden, dass der darauf platzierte Wein im Schatten und somit kühl blieb.

Dolce Vita unterm Heizstrahler

Von Venedig aus hat die Aperitivo-Kultur längst ihren Siegeszug um die Welt angetreten. Auch in Wien feiert man die italienische Lebensart an geschwungenen Marmorbartresen, an Stehtischen und in Schanigärten und, wenn die Temperaturen eher alpin sind als mediterran, notfalls unterm Heizstrahler.

Da wäre das Cin Cin, eine herrlich beengte Tagesbar gleich hinterm Schottentor, die Bar Montina, wo sie besonders dem Spumante Franciacorta huldigen, das edle Pastamara im Ritz Carlton, wo es für den doppelten Preis eine sogenannte Negroni-Show gibt, oder, ganz neu, die von Vapiano-Architekt Matteo Thun entworfene Campari Bar, wo man gleich zum Risotto- und Piccata-alla-Milanese-Essen sitzen bleiben kann.

Sollte das Fernweh auch nach dem vierten Campari Soda nicht gestillt sein, ist es vielleicht doch Zeit, die Koffer zu packen. Auch im vierzig Kilometer von Venedig entfernten Jesolo wird die Aperitivo-Kultur hochgehalten.

Etwa im Falkensteiner Resort & Spa, erbaut von Stararchitekt Richard Meier. Ein Großteil der Gäste stammt aus Österreich, was daran liegen mag, dass die Hotelgruppe ihren Hauptsitz in Wien hat, vielleicht aber auch daran, dass ein Großteil des Personals Deutsch spricht.

Aus dem Lateinischen übersetzt bedeutet aperire öffnen. Gemeint ist das magenöffnende, also appetitanregende Zusammenkommen am frühen Abend.
Foto: iStockphoto

Bartender Andrea Mazzarotto belässt es bei Englisch, erklärt dafür aber umso ausführlicher die Magie des Aperitivo. „Er regt den Hunger an, bringt die Menschen zusammen und fördert die Konversation. Manche vergessen vor lauter Lebensfreude sogar, danach zum Essen zu gehen.“ An der Hotelbar werden derweil Platten voll Köstlichkeiten aufgetragen: gebratene Brottaler mit Baccalà Mantecato, jenem Stockfisch, der zuvor in Milch aufgelöst, entgrätet und dann mit Öl und Sahne vermischt wird, Tintenfische, prall gefüllt mit gebratenem Gemüse, Frischkäse mit Orangenscheiben und sizilianischem Gambero rosso. Dazu festfleischige grüne Oliven und die unvermeidlichen Kartoffelchips.

„Besonders häufig bestellen meine Gäste Aperol Spritz“, verrät der grauen Kurzhaarschnitt und Beamtenbrille tragende Mazzarotto. Andere wünschen sich den mit frischen Pfirsichen verfeinerten Champagnercocktail Bellini, erstmals gemixt in Harry’s Bar in Venedig. Oder einen Hugo, noch so ein Trendgetränk der 2000er. Erfunden hat es der Südtiroler Roland Gruber, als Alternative zum Aperol Spritz. Es besteht aus Prosecco, Soda, Holunderblütensirup und Minze.

Und dann gibt es ja noch die Abstinenten, für die hält Mazzarotto den alkoholfreien Aperitif Sanbittèr bereit oder die Bitterlimo Crodino. Was er selbst nach Feierabend am liebsten trinkt? „Americano. Oder Negroni sbagliato, bei dem der Gin durch Prosecco ersetzt wird. Ein klassischer Negroni ist mir zu stark.“ Merke: Es gibt viele italienische Todsünden. Seinen Drink mit Wasser aufzuspritzen, gehört nicht dazu. (Eva Biringer, RONDO, 4.2.2020)