Astrid Müller ist Geschäftsführerin von Biogen Österreich, Biologin und Veterinärmedizinerin.

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18 Jahre ist es her, dass ein neues Alzheimermedikament auf den Markt gekommen ist. Die Forschung ist extrem komplex.

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Seit 18 Jahren ist kein neues Medikament gegen Alzheimer auf den Markt gekommen. Im Frühjahr hat das Pharmaunternehmen Biogen schließlich zwei Studien zum vielversprechenden Wirkstoff Aducanumab wegen ausbleibender Erfolge abgebrochen. Nun soll das Medikament doch im Jänner zur Zulassung bei der US Food and Drug Administration (FDA) eingereicht werden. Ein Gespräch mit der Biogen-Geschäftsführerin für Österreich, Astrid Müller.

STANDARD: Warum wurden die Studien im März abgebrochen?

Müller: Im Dezember 2018 hat eine Zwischenanalyse der Studien stattgefunden. Bei großen Kohorten ist das üblich, um zu verhindern, dass Patienten einem Medikament ausgesetzt werden, das potenziell nicht wirksam ist oder schwerwiegende Nebenwirkungen haben könnte. Dabei werden statistische Modelle verwendet, um das Ergebnis der Studien vorherzusagen. Die Daten von 1.700 Teilnehmern haben zum damaligen Zeitpunkt im Dezember gezeigt, dass die primären Endpunkte der Studien nicht erreicht werden können. Daraufhin hat Biogen den Nutzen für die Patienten neu bewertet und entschieden, im März abzubrechen.

STANDARD: Was waren diese Endpunkte?

Müller: Die Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten der Studienteilnehmer in einem Frühstadium von Alzheimer.

STANDARD: Warum nun doch ein Antrag auf Zulassung?

Müller: Nach Ende der Studien Ende März wurde eine zweite Analyse mit weit mehr Patientendaten und längerer Beobachtungszeit durchgeführt, darunter auch mehr Studienteilnehmer, die eine höhere Dosis über 18 Monate bekommen hatten. Dieser erweiterte Datensatz brachte die Kehrtwende. Die höhere Dosis scheint für die Wirkung ausschlaggebend zu sein. Daraufhin hat Biogen nach positiven Gesprächen mit der FDA entschieden, den Wirkstoff zur Zulassung einzureichen.

STANDARD: Und das hat die Zwischenanalyse nicht vermuten lassen?

Müller: Die Zwischenanalyse war im Dezember, die Studie wurde noch bis März durchgeführt. Erst danach wurden die Daten jener Patienten ausgewertet, denen eine höhere Dosis Aducanumab (von zehn Milligramm pro Körpergewicht) über einen längeren Zeitraum von 78 Wochen verabreicht wurde. Das zeigte, dass diese Patienten signifikant profitiert haben. Dies konnte aber erst in der abschließenden Analyse aller Patientendaten im Juni dargestellt werden.

STANDARD: Wie wirkt der Wirkstoff konkret bei den Patienten?

Müller: Patienten, die Aducanumab erhielten, zeigten signifikante Vorteile in Bezug auf Kognition, also die Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten, Gedächtnis, Orientierung und Sprache. Sie konnten sich im Haushalt wieder selbstständiger bewegen, Aufgaben wie Putzen, Einkaufen und Waschen wieder selbst erledigen und auch selbstständig das Haus verlassen, etwa auf die Bank gehen.

STANDARD: Wie stark kann der Rückgang der kognitiven Fähigkeiten durch Aducanumab aufgehalten werden?

Müller: Die klinische Verschlechterung gegenüber dem Ausgangswert der CDRSB-Scores (Skala zur Beurteilung des Schweregrads einer Demenz, Anm.) konnte um 23 Prozent gegenüber einer Plazebo-Kontrollgruppe signifikant reduziert werden. Damit konnte das Fortschreiten der Alzheimer-Erkrankung deutlich verlangsamt werden.

STANDARD: Kritiker sagen, der Effekt des Wirkstoffs auf die kognitiven Fähigkeiten sei nur minimal und im Alltag der Patienten nicht merkbar.

Müller: Aber es gibt einen Effekt, den zeigen die Studien. Und die Zulassung durch die FDA wäre zum derzeitigen Stand der Alzheimerforschung ein Ritterschlag für unsere Forschung.

STANDARD: Die Beta-Amyloid-Hypothese besagt, dass Eiweißablagerungen im Gehirn für Alzheimer verantwortlich sind und dass ihre Rückbildung zu einer Verbesserung der Erkrankung führen kann. Zuletzt war sie umstritten. Ist nun der Glaube an diese Theorie zurückgekehrt?

Müller: Richtig. Die Studienergebnisse sind definitiv ein Durchbruch für diese Hypothese. Nicht nur für Biogen und für Patienten waren die Studienabbrüche im März betrüblich, sondern auch für alle Wissenschafter, die schon seit Jahrzehnten an dieser Hypothese arbeiten. Jetzt hat man durch die neue Auswertung der Daten gesehen, dass der Antikörper Aducanumab offensichtlich dazu in der Lage ist, Beta-Amyloid im Gehirn aufzulösen und zu reduzieren. Und das ist eine Bestätigung für jahrzehntelange internationale Forschung.

STANDARD: Wie wird das Medikament eingenommen?

Müller: Es wäre verfrüht, jetzt eine Form der Verabreichung zu verkünden. In den Studien wurde einmal pro Monat eine intravenöse Infusion gegeben.

STANDARD: Wie viel wird das Medikament kosten?

Müller: Auch hier ist es für eine Aussage zu früh.

STANDARD: Gibt es Nebenwirkungen?

Müller: In beiden Studien waren die am häufigsten berichteten unerwünschten Ereignisse Amyloid-bedingte Bildgebungsanomalie-Ödeme und Kopfschmerzen.

STANDARD: Wann könnte das Medikament in Europa zugelassen werden?

Müller: Es gibt derzeit Gespräche mit der EMA bezüglich Einreichung von Aducanumab. Mehr ist noch nicht bekannt.

STANDARD: Seit 18 Jahren ist kein neues Alzheimermedikament auf den Markt gekommen. Pfizer hat im Vorjahr die Forschung an neuen Medikamenten aufgrund zu geringer Erfolgsaussichten eingestellt. Warum ist die Forschung auf diesem Gebiet so schwierig?

Müller: Die Forschung ist sehr aufwendig, weil die Erkrankung so komplex ist. Es gibt verschiedene Hypothesen. Wie bei vielen Erkrankungen ist noch nicht zu hundert Prozent klar, warum eine Person sie bekommt, die andere nicht. Bei Alzheimer spielen vielleicht genetische, persönliche und Umweltfaktoren eine Rolle. Forscher diskutieren derzeit auch zu hohen Blutdruck oder zu hohes Cholesterin als mögliche Ursachen. Außerdem braucht es riesige Kohorten für Studien, und die Symptome sind sehr lang unsichtbar. Symptome schlagen in der Klinik oft spät auf, das Alzheimergeschehen im Gehirn beginnt aber schon viel früher. (Bernadette Redl, 22.11.2019)