Diese vier Herrschaften bewerben sich für die Aufnahme in die Rock-'n'-Roll-Charts von Radio Vatikan: die Spielleute von Coldplay.

Foto: Warner Music

Das Blau bricht sich seinen Weg durch die Wolken, die Wärme der Sonne fällt auf die Erde – Coldplay nehmen uns an der Hand und führen uns in die Kirche. Das erste Lied nach dem instrumentalen Intro heißt Church. Doch der Song erfüllt nur die Erwartungen, die ein Coldplay-Album fanseitig einzulösen hat: Er klingt nach Coldplay, nach U2 minus Predigtdienst. Vielleicht ist Wien daran mitschuldig. Immerhin zeigte sich die Band bei ihrem letzten Aufenthalt angetan von der Langen Nacht der Kirchen – womit sich Popstars am Abend halt zerstreuen, wenn Frau und Kinder fern sind.

Coldplay

Zwei Stopps weiter geht es tatsächlich ins Gotteshaus: Broken ist ein Gospel, bei dem Chris Martin den Call-Gesang übernimmt, während ein Chor den Antwort-Part übernimmt. Es ist der vierte Song des heute erscheinenden Albums Everyday Life, und bis dahin klingt jedes Lied anders als seine Vorgänger. Das bleibt so. Zwar streut die britische Band noch zwei, drei Pflichtübungen ein, die den Formatradiohörer daran erinnern, dass er Coldplay hört, ansonsten muss man Martin und Co zugutehalten, dass sie sich was trauen.

Nasse Füße bis zum Hals

Dass Mut auf dünnem Eis manchmal ins Wasser führt, nehmen sie dabei in Kauf und holen sich bei When I Need a Friend nasse Füße bis zum Hals. When I Need a Friend ist schon wieder ein Kirchenlied, heilig bis unters Dach. Dieses Mal aber kein lässig swingendes Gospel, stattdessen hebt ein hüftsteifer Chor an, sodass man vorsorglich die Milch in Gips legt. Zumindest im Vatikan scheint damit ein Eintrag in den Charts sicher.

Everyday Life ist das achte Studioalbum von Coldplay. Schon der Titel verweist darauf, dass alles ein bisschen wie immer ist, selbst wenn es anders klingt. Die Briten gelten als Popstars von nebenan. Keine durchgeknallten Drogenfresser, sondern solide Familienmenschen, höflich, gewaschen, bloß mit einem etwas ungewöhnlichen Beruf.

Coldplay

Mit Everday Life versuchen sie, etwas Farbe in ihren Alltag zu bringen. Anstatt, sagen wir, ein Dutzend Powerballaden zum Thema „ich schmachte, also bin ich“ zu singen, versucht die Band mehrere Facetten des sogenannten normalen Lebens abzubilden. Das übersetzt sie in eine stilistische Vielfalt, die für Mainstream-Popstars gefährlich sein kein, weil sie ja zuerst Erwartungshaltungen zu erfüllen hat. Andererseits kann es gerade Vertretern der kommerziellen Oberliga auch einmal egal sein, ob sie von einem Album 16 oder nur 15,5 Millionen Alben verkaufen, die Stadien sind bei ihren Konzerten sowieso auf allen Kontinenten voll.

Immerhin formal mutig

Insofern ist Everyday Life zumindest formal ein mutiges Album. Inhaltlich thematisiert es wie üblich die schönen und nicht so schönen Dinge. Die Waffenkultur bekommt in Guns schablonenhafte Kritik ab, Champion of the World ist eine Kraftballade zum Gähnen, Bani Adam könnte als die Ballade pour Adeline von Coldplay in die Bandgeschichte eingehen. Chris Martin begibt sich hier auf die Spuren des Richard Clayderman. Man kann das als Mut deuten, in dem Sinn von keine Angst zu haben, im Schmalzfass abzusaufen, oder als die tranige Etüde sehen, die es am Ende ist.

Doch ein paar hübsche Titel hält das Werk parat: Etwa Cry Cry Cry, das mit einem Vintage-Doo-Wop-Sound erfreut. All die verschiedenen Ausrichtungen sind geprägt von der Gefühligkeit von Martins Gesang. Das ist der Klebstoff dieses Werks, das man sonst nur bedingt als gesamtheitliches Album wahrnimmt. Zu unterschiedlich fallen seine Einzelteile aus, selbst wenn diese durchaus sympathisch wirken. Nett halt. Also das Todesurteil jeder Kunst. (Karl Fluch, 22.11.2019)