Pablo Picassos "Les Demoiselles d’Avignon", ein Gründungswerk der Moderne, hängt im MoMA nun neben "American People Series #20" der Afroamerikanerin Faith Ringgold (v. li.).

Foto: 2019 The Museum of Modern Art. Photo: Heidi Bohn

Das MoMA hat auch die einstige Trennung von Malerei, Skulptur und neueren Kunstformen wie Video und Performance aufgelöst.

Foto: 2019 The Museum of Modern Art. Photo: Robert Gerhardt

Zur selben Zeit als Vincent van Gogh in Frankreich seine tosende "Sternennacht" (links) malte, formte der sich selbst als "verrückter Töpfer von Biloxi" vermarktende Keramikkünstler George Ohr in den USA kuriose Gefäße (im Vordergrund). Im neuen MoMA treffen sie gleichberechtigt aufeinander.

Foto: 2019 The Museum of Modern Art. Photo: Jonathan Muzikar

Claude Monets Seerosen, Andy Warhols Suppendosen oder Pablo Picassos Les Demoiselles d’Avignon – im New Yorker Museum of Modern Art hängen kunsthistorische Ikonen zuhauf. Den Picasso bestaunt man seit einem Monat jedoch in der Nachbarschaft eines weniger prominenten Bildes aus dem Zyklus American People Series der 94-jährigen afroamerikanischen Malerin Faith Ringgold. Sie stellte 1967 einen blutigen Rassenaufstand dar. Picassos 60 Jahre älteres Gründungswerk der Moderne, das von afrikanischen Masken beeinflusste Figuren aus mehreren Ansichten verschnitt, soll dadurch laut dem MoMA anders gesehen werden. Etwa mit Blick auf kolonialistische statt auf kubistische Aspekte.

1929 gegründet, wurde das MoMA über die Jahrzehnte zum wichtigsten Museum seiner Art. Was dort gezeigt wurde, war angekommen im Kanon der westlichen Kunst, sortiert als übersichtliche Abfolge vom Impressionismus zum Expressionismus und weiter.

Alte weiße Männer

Damit ist nun Schluss. War das Best-of, das Besucher beim Schlendern durch den Tanker bisher zu Gesicht bekamen, vorwiegend weiß, westlich und männlich, mischen sich darunter jetzt neue Gesichter. In den vergangenen Jahren wurden dazu nicht nur die eigenen Depots durchforstet, sondern mittels Erwerbsoffensive auch klaffende Lücken gefüllt: Neben Künstlerinnen fanden auch afrikanische und afroamerikanische, lateinamerikanische und asiatische Artefakte den Weg in die Bestände. Gezeigt werden künftig zu 30 Prozent Kunst von Frauen und zu 20 Prozent Kunst von wenig bekannten Künstlern.

Solch eine Öffnung des Kanons ist an großen Häusern weltweit inzwischen weitgehend gang und gäbe, das MoMA aber hatte Aufholbedarf. Dementsprechend wird die neue Diversität in den USA gefeiert. Sie ist in einer globalisierten Welt auch abseits moralischer Belange ein Signal, um Schritt mit einer pluralisierten Gesellschaft zu halten, jubeln manche. Der Kunstmarkt hat sich für Künstler verschiedener nationaler, sozialer und ethnischer Herkunft geöffnet, sie zeigen ihre Arbeiten auch auf Plattformen im Internet gleichberechtigt nebeneinander und stehen im Austausch.

Gebot zur Öffnung

Ob die Neuordnung der Dauerausstellung aber wirklich Strukturen zwischen weißen und farbigen, weiblichen und männlichen, anerkannten und unbekannten Künstlern auflockert, wird von vielen auch bezweifelt: Alle sechs Monate wird in der ganzen Fülle umgeräumt, dann gestalten die Kuratoren ein Drittel der Schau neu. Publikumsmagneten werden wohl den Platz behalten, während die Satelliten rundum wechseln.

Man kann die Bemühungen aber jedenfalls unter dem Schlachtruf "Öffnet den Kanon" zusammenfassen, der derzeit als Gebot der Stunde allerorts ertönt. Er ist hochpolitisch. Denn ein Kanon ist nicht nur eine Anzahl von hübschen Bildern, Texten oder Kompositionen, die man gemeinhin kennt. Er ist ein größter gemeinsamer Nenner, eine kulturelle Basis, mit deren Hilfe man sich in einer Gesellschaft zurechtfindet. Als eine Art Normalität ist er ein Machtmittel – und gibt an, wer das Recht hat, vorzukommen. Das harscher klingende Wort "Leitkultur" liegt ihm nicht fern. Der Kanon integriert und schließt im gleichen Handstreich aus.

Kanon für alle

Braucht es in diverser und zudem auf vielen Ebenen gerechter werdenden Gesellschaften also einen neuen Kanon? Einen, der nicht Menschen in bestehende Bahnen zwingt, sondern der flexibler ist und sich aus der Zusammensetzung einer Gruppe ergibt? Der darum bemüht ist, Diversität möglichst repräsentativ abzubilden? Das ist der sicher fürs Zusammenleben fruchtbarere. Nur so generiert man Verständnis.

Daran denken das MoMA sowie Stefan Heidenreich und Markus Resch. Unter dem Titel Schluss mit dem Kult der Exklusivität! proklamierten der Medientheoretiker und der Kulturmanagementprofessor Anfang des Monats in der Wochenzeitung Die Zeit, die Kunst befinde sich in einer Sackgasse. Seit Jahren wachse ihre Abhängigkeit vom Markt und großen Sammlern, dadurch entfremde sie sich von den Menschen. Sie habe nunmehr zwei Möglichkeiten: Entweder verliere sie sich bald in einem "Kult leerer Exklusivität", oder sie wende sich "dem Publikum" zu.

Wie das gehen soll? Auch in Musik oder Film schaffen es die Menschen, eigene Interessen herauszufinden, meint Heidenreich zum STANDARD. "Warum es in der Kunst ohne Kuratoren nicht gehen soll, hat mir noch niemand plausibel erklären können." Dank sozialer Netzwerke seien die Leute es gewohnt, "aktiv zu kommentieren und eigene Playlists zusammenzustellen", ergänzt Resch.

Shitstorms als Publikumsbeteiligung

Tatsächlich meldet sich das Publikum in letzter Zeit bereits zu Wort. Es sagt aber weniger, was es will, als was es nicht will: Museen erleben Shitstorms, wenn Werke aus religiösen oder politischen Gründen abgehängt werden sollen, sie zu wenige Frauen zeigen oder Sponsoren in der falschen Branche ihr Geld verdienen. Es sich mit dem Publikum zu verscherzen und schlechte Nachred’ im globalen Dorf zu haben, riskieren die Häuser nicht gerne.

Nun müsste das auf die konkrete Werkauswahl übergehen. Solche "kollektiven und diversen Urteile" der Betrachter könnten laut Heidenreich die Kunst wieder "einer öffentlichen Diskussion öffnen, in ihrer ganzen Vielfalt und auch in abseitigen Nischen". Was bedeutet das für die Idee eines Kanons? Heidenreich formuliert die Frage anders: "Können wir eine Ordnung herstellen, die netzwerkförmig ist und etwa auf Relevanz oder Wirkung beruht?"

Bleibt manchen die Sorge, dass eine wegen ihres skandalösen Potenzials und krasser Ansätze faszinierende Kunst in einem von Publikumsmehrheiten nach unklaren Kriterien geführten System zur moralischen Frage wird. (Michael Wurmitzer, 22.11.2019)