Es knisterte und krachte in der Leitung. Die Meeresbiologin Antje Boetius, Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) in Bremerhaven, hatte gerade die Nordpol-Drift-Expedition „Mosaic“, das größte Polarforschungsprojekt aller Zeiten, bei der Falling-Walls-Konferenz in Berlin vorgestellt und versuchte nun auf der Bühne, Verbindung mit dem Expeditionsleiter an Bord der Polarstern, dem Atmosphärenphysiker Markus Rex, aufzunehmen. Ein bisschen Show muss sein. Die Übung gelang, und wie Boetius später dem STANDARD versichern sollte, war das gar nicht so selbstverständlich. Rex und sein Team driften seit vergangenem September auf dem deutschen Forschungseisbrecher Polarstern über den Arktischen Ozean. „Da gibt es nur eine wackelige Telefon- und kaum Internetverbindung“, sagt Boetius. „Aber es geht uns bei der Expedition auch darum zu klären, wie die Menschen unserer Breitengrade mit der Arktisregion vernetzt sind.“

Unwirtliche Bedingungen rund um das Expeditionsschiff Polarstern:
Foto: AWI

Ein Jahr lang werden die Wissenschafter um den Nordpol herum, wo sonst niemand lebt, klimatische Veränderungen in der Arktis im Detail beobachten und so viele Daten wie möglich über die Zusammenhänge zwischen Ozean, Eis und Atmosphäre sammeln. Denn die Arktis ist eine Art Epizentrum des Klimawandels. Hier steigt die Temperatur deutlich stärker an als im weltweiten Durchschnitt, das Meereseis schmilzt rasant. Auch jenseits des Arktischen Ozeans zeigt sich der Wandel: Gletscher schwinden, dadurch steigt der Meeresspiegel, außerdem tauen Permafrostböden auf, was wiederum Kohlendioxid freisetzt. Boetius sagt: „Die Arktis ist ein Frühwarnsystem für die Erde. Was hier passiert, hat später weitreichende Folgen für alle Menschen.“

Ein halbes Jahr Polarnacht

Deswegen hofft man am Alfred-Wegener-Institut, mit den gesammelten Daten ein besseres Verständnis des globalen Klimawandels zu gewinnen. Da das Schiff ein ganzes Jahr driftet, gewinnt man erstmals auch Daten über die Polarnacht, die am geografischen Nord- wie auch am Südpol fast ein halbes Jahr dauert. In dieser Zeit herrschen absolute Dunkelheit und Temperaturen von bis zu minus 40 Grad Celsius.Das Eis sollte im Winter schnell wieder mehr werden, nur ist die Frage: Ist das heute wirklich noch genau so?

Das zur Helmholtz-Gemeinschaft zählende Alfred-Wegener-Institut leitet dieses Großprojekt, an dem mehr als 600 Menschen aus 19 Nationen beteiligt sind. Deutsche, amerikanische, russische, finnische, schwedische, chinesische Wissenschafter übernehmen unterschiedlichste Aufgaben, sie führen Messungen über Veränderungen in der Atmosphäre, im Eis und im Meer durch. Leopold Haimberger vom Institut für Meteorologie und Geophysik der Uni Wien ist auch am Projekt beteiligt, allerdings nicht vor Ort. Er wird nach der Expedition Analysen zum Energiehaushalt der Arktis vornehmen.

Eisbären sind neugierig und manchmal auch hungrig – deshalb werden sie mit Krach vertrieben.
Foto: AWI

Während dieses einen Jahres im Eis wird auch die Tierwelt beobachtet – vom Einzeller bis zu den Eisbären, die zur Gefahr werden können, wenn sie sehr hungrig oder neugierig sind. Experten, die genau wissen, wie man sich vor den Tieren schützt, sind jedenfalls mit an Bord. Boetius: „Im Normalfall hilft vor allem Krach machen, denn das mögen die Bären nicht.“ Man müsse die Wissenschafter schützen, die rund um das Schiff arbeiten – auf einer Fläche von gut neun Quadratkilometernsind unterschiedliche Messstationen aufgebaut, deutsche Medien sprechen von einer Forschungsstadt im Eis.

Eisbären werden angelockt

Das lockt die Eisbären natürlich an. Nach drei Monaten wird das Team ausgetauscht, und die nächste Gruppe macht dort weiter, wo die die vorherige aufgehört hat. „Wir haben die Expedition bis in die letzten Details geplant, um keine unliebsamen Überraschungen zu erleben“, sagt Boetius. Manche kann man nie ausschließen: Unfälle und Erkrankungen. Daher befindet sich auf der Polarstern auch eine Krankenstation.

Der Eisbrecher "Polarstern" unterwegs.

Im besten Fall übergibt aber ein gesundes Team, das von Bord geholt wird, die gesammelten Daten, von denen sich Boetius schon einige Durchbrüche erwartet. „Die Ergebnisse werden von vielen Forschern ausgearbeitet, es geht dabei auch um grundlegende Verständnisfragen, um die Klimamodelle besser zu machen. Und da wir erstmals wirklich umfassende Forschungen in dieser Region betreiben, sollte uns das schon ein gewaltiges Stück vorwärtsbringen.“

Die Expedition, deren Planung schon 2011 begonnen hat, folgt den Spuren von Fridtjof Nansens Expedition mit seinem hölzernen Segelschiff Fram in den Jahren 1893 bis 1896. Nansen hatte das Ziel, mithilfe der Eisdrift im Arktischen Ozean zum geografischen Nordpol zu gelangen. Der Nordpol wurde nicht erreicht, jedoch brachte die Expedition eine Vielzahl von anderen Erkenntnissen über Ozean und Eis, Nansen wurde als Held gefeiert.

Antje Boetius, Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven.

Ist die Erde in ihrer Balance?

Von der Gefahr des Scheiterns will man gut 120 Jahre später nicht sprechen: Die Polarstern ist natürlich deutlich besser ausgestattet als Nansens waghalsige Schiffskonstruktion – und die Forscher geben kein bestimmtes geografisches Ziel vor. Sie wollen schauen, wie gut unsere Erde in Balance ist. In der Geschichte der Menschheit seit zwei Millionen Jahren halten die gefrorenen Regionen am Nord- und Südpol das Weltklima im Gleichgewicht – wird es nun aber zu warm, dann gibt es mehr Extremwetter und Umweltkatastrophen, so sagen es Klimamodelle. Und davon ist auch AWI-Direktorin Boetius überzeugt.

Die Forscherin legt Wert auf eine klare Position in der Öffentlichkeit. „Unsere Aufgabe ist, die Wahrheit zu präsentieren und diese auch einzuordnen – wie auch unsere Methoden darzulegen, wie wir zur Wahrheit kommen. Das mag im Fall des Klimawandels gerade wie eine Dystopie klingen, wir zeigen aber auch auf, was die Lösungswege sind.“ Sie zählt Tatsachen auf: Die Atmosphäre, die wir gerade behandeln wie „eine billige Mülldeponie für Kohlendioxid“, hat nur mehr für 1000 Gigatonnen Platz, bevor die Erde zwei bis drei Grad wärmer wird. Jede achte Tier- und Pflanzenart sei aufgrund des jahrzehntelangen menschlichen Fehlverhaltens gefährdet, und alles zusammen kann dazu führen, „dass viele Millionen Menschen nicht mehr in ihrer Heimat leben können“. Genau wegen derlei Zukunftsszenarien müsse man den Klimawandel bis ins letzte Detail verstehen. Und gerade dafür scheint das arktischen Eis eine wichtige Rolle zu spielen. (Peter Illetschko, 23.11.2019)

Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung