Im Gastkommentar rollt der Publizist und Sozialanthropologe Leo Gabriel die Hintergründe der Ereignisse in Bolivien auf.

Es gibt einen oft zitierten Witz in Lateinamerika, der fragt: "Was ist das? Es watschelt wie eine Ente, es schnattert wie eine Ente, es schwimmt wie eine Ente. Dreimal dürfen Sie raten! Die Antwort lautet: Es ist eine Ente."

An diesen Witz erinnert die Diskussion, die im Augenblick die meisten Außenministerien, Parlamente und Medien in der Europäischen Union sehr beschäftigt: War nun die gewaltsame Auseinandersetzung, die im Anschluss an die umstrittenen Wahlen in Bolivien stattgefunden und letztendlich zum Rücktritt des Langzeitpräsidenten Evo Morales geführt hat, ein "Putsch" oder das Resultat einer seit Monaten, wenn nicht Jahren vorbereiteten "Volkserhebung"?

Die Täter von gestern

Die Fakten sprechen für sich: Während die Polizei und die bolivianische Armee vor dem Rücktritt des Präsidenten untätig zusahen, wie Bürgermeister, Parlamentsabgeordnete, andere Amtsträger sowie Sympathisantinnen und Sympathisanten der Regierungspartei MAS (Movimiento al Socialismo) samt deren Familienangehörigen von einem aufgestachelten Mob aus ihren teilweise niedergebrannten Häusern und Wohnungen gezerrt, an einen Pfahl gebunden, bespuckt und manchmal sogar mit Urin beschüttet wurden, beschützen sie jetzt, nach dem Abgang von Morales, die Täter von gestern vor dem Ansturm von zehntausenden Anhängern des Ex-Präsidenten.

Inzwischen sind die bolivianischen Streitkräfte auch im Chapáre einmarschiert, jener Provinz, in der Morales als Gewerkschaftsführer der Kokabauern seine politische Laufbahn begonnen hatte. Und in Cochabamba und El Alto schossen paramilitärisch organisierten Einheiten von Rechtsradikalen in Zusammenarbeit mit der Polizei in die protestierenden Demonstrationszüge; Fazit: mindestens 18 Tote und hunderte Verletzte.

Ist das ein "Putsch" oder nicht? Dreimal dürfen Sie raten!

Fehler der Vergangenheit

Natürlich ist es richtig, dass der Oberste Gerichtshof den im Februar 2016 ergangenen, in der Verfassung vorgesehenen Volksentscheid, sich nicht wiederwählen zu lassen, verworfen hat und dass unmittelbar nach den Wahlen die Auszählung der Stimmen vom obersten Wahltribunal unter äußerst fragwürdigen Umständen unterbrochen wurde. Auch ist es nachweisbar, wie die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in einem auch von Morales anerkannten Vorbericht zu den Wahlen festgestellt hat, dass die Resultate aus den Wahlkreisen an einen privaten Drittserver widerrechtlich übermittelt wurden. Aber ebenso stimmt es, dass Morales eindeutig die relative Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnte und er – spät, aber doch – noch vor seinem Rücktritt der Wiederholung der Wahlen zugestimmt hat.

Die wahren Hintergründe des bolivianischen Konflikts sind jedoch nicht Zahlenspiele und Wortklaubereien. Es handelt sich vielmehr um eine historische Auseinandersetzung zwischen den in den als Media Luna bekannten Provinzen von Santa Cruz, Beni, Cochabama und anderen angesiedelten Oberschichten und den im Hochland der Anden beheimateten Indígenas und deren Anhängerinnen und Anhängern. Aber auch die immensen Erdgas- und Lithiumbestände, die Morales ins Volksvermögen zurückgeholt hat, um damit Sozial- und nicht immer unumstrittene Infrastrukturprojekte (oft mithilfe von Investitionen der Volksrepublik China, aber auch verschiedener europäischer Länder und Unternehmen) zu finanzieren, sind vielen kapitalträchtigen Großkonzernen aus den USA, aber auch aus Deutschland ein Dorn im Auge.

Bürgerkiegsähnliches Szenario

In diesem geopolitischen Spannungsfeld, das sich 2007 in den blutigen Auseinandersetzungen in und um die Verfassungsgebende Versammlung (Constituyente) erstmals entladen hatte, ist Morales nach und nach dem Druck des bolivianischen Großkapitals gewichen und hat damit auch viele jener sozialen Bewegungen und Volksorganisationen verprellt, denen er seine in der Geschichte Boliviens einzigartigen Wahlsiege zu verdanken hatte. So sind nach und nach einige der vielen indigenen Volksgemeinschaften abtrünnig geworden, weil sie sich gegenüber dem "Herrenvolk" der Aymaras, dem auch Morales angehört, benachteiligt gefühlt haben. Aber auch innerhalb der traditionellerweise linken Gewerkschaftszentrale COB (Central Obera Boliviana) war es zu heftigen Auseinandersetzungen für und gegen Morales gekommen, ganz zu schweigen von den Bauernorganisationen, die sich gegen den zusehends isolierten Präsidenten gestellt hatten.

Die große Frage, die sich angesichts des im Augenblick um sich greifenden bürgerkriegsähnlichen Szenarios stellt, ist jedoch die nach einer Lösung des Konflikts. Bisher hat sich die unter dem Einfluss der USA stehende Opposition geweigert, mit der Regierungspartei MAS in einen Dialog zu treten, und eine ihr zugehörige Vizepräsidentin des Parlaments zur Interimspräsidentin gemacht. Diese bis dato völlig unbekannte Person hat inzwischen eine Regierung gebildet, die jeglicher Legitimität und Legalität entbehrt.

Mögliche Lösungsperspektiven

Gerade weil die Opposition unter Einschluss der Armee gerade dabei ist, ihr scheindemokratisches Mäntelchen abzulegen und ihr von Rassismus, Repression und Klassendünkel geprägtes Gesicht zu zeigen – was etwa in den systematischen öffentlichen Verbrennungen der indigenen Flagge der Wiphala offen zum Ausdruck kommt –, suchen viele Bolivianerinnen und Bolivianer nach einer gangbaren Lösung, um einen offenen Bürgerkrieg zu verhindern. Dabei haben sich die Uno, die EU und die katholische Kirchenhierarchie angeboten, zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln und die von der Organisation Amerikanischer Staaten empfohlene Wiederholung der Wahlen vorzubereiten.

Ob die von den USA gesteuerte Opposition in ihrem Siegestaumel auf dieses Angebot eingehen wird, bleibt jedoch ebenso ungewiss wie die Frage, ob die MAS wieder Morales oder einen anderen Präsidentschaftskandidaten – wie etwa den allseits beliebten ehemaligen Außenminister David Choquehuanca – aufstellen wird. (Leo Gabriel, 22.11.2019)