Lieber Amos,

danke für Deine Mail aus den USA. Du hast mir wieder erklärt, was Du von der Klimaerwärmung hältst. Es habe immer schon vorherrschende Meinungen gegeben, schreibst Du, gegen die man nicht verstoßen durfte, das Christentum zum Beispiel. „Viele wurden damit reich, die Bevölkerung hatte zu glauben, Ketzer wurden beseitigt.“ Dabei sei es nur ein lange erfolgreicher Schwindel gewesen, „a hoax“. Mit der angeblichen Erwärmung sei es nicht anders. „There is no climate crisis.“

Der US-Präsident stellt eine alte Freundschaft auf die Probe.
Foto: AFP/MANDEL NGAN

Briefe dieser Art hatte ich schon vorher von Dir bekommen. Nicht nur die Klimasorgen seien Quatsch, auch der Verdacht, die Russen hätten der derzeitigen US-Regierung ins Amt geholfen. Was deren Politik angehe, sei sie das Beste fürs Land, es gelte, acht Jahre Niedergang unter Obama wiedergutzumachen. Die amerikanischen Linken seien die neuen Faschisten. Und dergleichen mehr. Dagegen werde eines helfen: „Trump 2020!“

Nicht der Einzige

Ich hätte mir sagen können: Na und? Du bist nicht der Einzige, Millionen Amerikaner sind dieser Meinung und haben Trump gewählt (wenn auch nicht so viele, wie Clinton gewählt haben), die meisten von ihnen sind nach drei Jahren Amtszeit noch immer von ihm begeistert, da könnte mir einer mehr oder weniger ja egal sein.

Aber Du bist nicht irgendwer, sondern einer meiner besten Schulfreunde. Du bist jemand, bei dem ich solche Aussagen und Überzeugungen nicht vermutet hätte. Darum habe ich Dir gesagt, dass ich einen offenen Brief schreiben werde, weil Ihr in einem Jahr eine für die ganze Welt wichtige Wahl haben werdet, und da mag es nützen, in eine Gedankenwelt einzutauchen, die nur wenige hier nachvollziehen können. Ich will versuchen zu verstehen, was uns so weit voneinander entfernt hat. Unsere gemeinsamen Freunde wollen es auch verstehen. Ich fange also bei unserer Zeit an der Deutschen Schule Mailand an.

Die Familien von Markus und Wolfgang, beide aus Deutschland, und von mir hat es wegen der Berufe der Väter nach Italien verschlagen. Sandro ist der Sohn einer Schweizerin und eines Italieners, er sollte in eine zweisprachige Schule gehen. (Ich habe die Namen geändert, aber Du weißt, von wem ich rede.) Die Herkunft von Dir und Deiner kleinen Schwester Ina war die ungewöhnlichste. Eure Eltern waren aus Jugoslawien vor den Deutschen nach Italien geflüchtet und dann in die Schweiz, Du kamst in Buenos Aires auf die Welt, Ina in Paris, in den Sechzigerjahren lebtet Ihr in Mailand, Ihr wart eine kosmopolitische Insel in einem bürgerlich-konservativen Meer, so sahen wir das und fanden es spannend.

"Briefe dieser Art hatte ich schon vorher von Dir bekommen. Nicht nur die Klimasorgen seien Quatsch, auch der Verdacht, die Russen hätten der US-Regierung ins Amt geholfen."

Wir fünf Halbwüchsigen haben einander gut ergänzt. Wir haben die Schülerzeitung redigiert, in der ich unlängst beim Durchblättern auf Deine exzentrischen Beiträge gestoßen bin, etwa Konstruktionen von Mäuse- und Fliegenfallen. („Die Fliegen schlafen während der Chorstunde ein und wachen nicht wieder auf.“) Im Hinterhof Eures Wohnhauses hast Du kleine Raketen gezündet, das hat Wolfgang sehr beeindruckt, und Spielzeugpistolen hast Du so präpariert, dass Du mit richtigen Patronen auf Verkehrsschilder schießen konntest. Markus sagt, man sehe jetzt noch die Einschusslöcher in Cerro am Lago Maggiore. Irgendwie hast Du immer schon anders getickt, abseits dessen, was man später Mainstream nennen würde.

Wir haben geglaubt zu wissen, wie die Welt ist und wie sie zu ändern wäre, wir waren uns da, so scheint es mir rückblickend, ziemlich einig. Es war ein Weltbild, entstanden irgendwo zwischen der Lektüre der Zeitschrift Pardon mit ihrer subversiven Satire und dem Aufbegehren gegen die zum Glück seltenen reaktionären Lehrer, zwischen frühen publizistischen Versuchen und, später dann, ersten Vietnam-Protesten. Ich erinnere mich auch, dass wir in Deinem Zimmer gesessen sind und Dylan gehört haben. In einem Lied hat „the Freewheelin’“ von seinen Freunden geträumt, davon, dass sie alle wussten, was richtig und was falsch war, und glaubten, sie könnten ewig beieinandersitzen und es lustig haben.

Aber, singt er – und es ist mir nachher bewusst geworden, wie sehr es auch für uns gestimmt hat –, das war äußerst unwahrscheinlich. „Our chances really was a million to one.“

Nach Kalifornien

Es hat uns bald in verschiedene Richtungen zerstreut. Vier von uns haben in ihren Heimatländern zu studieren begonnen, Du hast unsere Schule schon vor der Matura verlassen. Was Dich nicht interessiert hat, dem hast Du Dich auch nicht unterziehen wollen. Du hast woanders maturiert und dann in Philadelphia studiert, warst an Anti-Vietnamkriegs-Demos beteiligt. In den Siebzigerjahren bist Du nach Kalifornien gezogen, bis vor wenigen Monaten hast Du in einem Wald nördlich von San Francisco gelebt.

Ich habe Dich dort mehrmals besucht. Das Ambiente war beeindruckend. Du hattest Dir vieles selbst zurechtgezimmert. Einmal haben Freunde von Dir zu einem Fest eingeladen, bei dem es selbstgekelterten Wein gab. Er war ziemlich schlecht, aber die Energie war gut, eine Art späte Hippie-Idylle mit Dir als langhaarigem Zugereistem, der für die freiwillige Feuerwehr eine Software für optimale Einsatzpläne programmierte und als Toningenieur für Rock-Konzerte arbeitete. Wolfgang und Sandro, die ebenfalls bei Dir zu Gast waren, und ich waren von Deiner pragmatischen Art, Dinge anzupacken, beeindruckt – eine erwachsen gewordene Fortsetzung dessen, was Du schon in Mailand am liebsten getan hast. Du warst ein liebenswürdiger Gastgeber. Über Politik haben wir nicht geredet.

Später dann doch. Du wirst Dich erinnern, dass wir vor mehreren Jahren beisammengesessen sind und unter anderem über Waffengesetze diskutiert haben. Wir „Europäer“ haben von den Vorteilen strengerer Gesetze gesprochen. Du hast nur gelächelt und gesagt: Ja, Sklaven haben eben keine Waffen. Du warst Dir Deiner Sache vollkommen sicher. Auch als die Rede auf den Klimawandel kam, hast Du uns erklärt, dass wir auf Panikmacher reinfallen, weil klar belegt sei, dass es keine von Menschen verursachte Erwärmung gebe, Du verfolgest die wissenschaftliche Diskussion genau.

Giftige Polemik

Es hat eine Zeit gedauert, bis ich reagiert habe. Ich wollte mich auf keinen Hickhack einlassen, bei dem nichts herauskommt. Aber vor einiger Zeit hat sich Markus über eine Deiner Facebook-Meldungen so geärgert, dass er sie weitergeschickt hat mit dem Vermerk, leider sei Amos nun endgültig in ein unakzeptables Eck abgedriftet. Der Text war eine giftige Polemik gegen Clinton-Wähler und andere Liberale, die nicht wahrhaben wollten, dass es mit dem Land bergauf gehe, die von den Medien, „the Trump-hating New York Times and Washington Post“, hinters Licht geführt würden, und weiteres in der Art.

Nun hätte ich erst recht sagen können: Finger weg! Aber was Du geschrieben hast, ging mir nicht aus dem Kopf. Ich wollte einfach wissen, ob Deine Einschätzung der Liberalen (also im Sinne des US-Codeworts für das, was dort als links gilt) wirklich so eindimensional und feindselig ist. Und wie kommst Du auf Dein Wissen übers Klima, die Rolle von Medien beim Verbreiten von Fakten, die Sinnhaftigkeit der derzeitigen Waffengesetze, über Migration und Grenzschutz? A can of worms, wie es drüben heißt, die wir da öffnen.

Amos, der Autor und Wolfgang als Wächter in einer Aufführung von "Antigone", Deutsche Schule Mailand, 1965.
Foto: Privat

Ich will nur einige der Würmer herauspicken. Was wurde zum Beispiel aus Deinem Engagement gegen den Vietnamkrieg, wie sehr hast Du Dich seither verändert? Und schon die erste Antwort wirft mehr Fragen und mehr Verwirrung auf, als dass sie etwas klärt. Du seist immer ein im Wortsinn Liberaler gewesen, schreibst Du, nie ganz im Einklang mit dem vorherrschenden Gedankengut. Das allerdings würde ich nicht als liberal bezeichnen, vielmehr als eine Art Widerspruch aus Prinzip oder aus Geltungsgründen, als „contrarian“. Liberal sei doch etwas ziemlich anderes, habe ich geantwortet, im Übrigen ein Begriff, der diesseits und jenseits des Ozeans fast Gegensätzliches bedeutet.

Darauf bist Du nicht weiter eingegangen. Aber es gibt ja noch genügend andere Würmer. Wie etwa hältst Du es mit den bisherigen Maßnahmen der Trump-Regierung in Sachen Umwelt, Migration, Auslandsbeziehungen? Sie habe, antwortest Du mir, wenn auch nicht wirklich auf meine Frage, „in Hinsicht auf Wirtschaft, geopolitische Maßnahmen, die Ausrottung politischer Korruption (...) mehr getan und in kürzerer Zeit, als das frühere Regierungen geschafft haben“.

Begründete Skepsis

Woher weißt du das, Amos? Ausrottung politischer Korruption? In den acht Jahren unter Obama sollen sieben Personen der Regierung („executive branch“) wegen Korruption verurteilt worden oder zurückgetreten sein, in den drei Jahren unter Trump 17. Ist das eher ein Zeichen, dass der Kampf erfolgreich geführt wird oder dass so viele korrupte Mitarbeiter an Bord waren? Wir sind wahrscheinlich auch da unterschiedlicher Ansicht, so wie Du gegenüber meiner Quelle – Wikipedia – misstrauisch sein wirst und ich nicht weiß, woher Du Dein Wissen beziehst.

Beim Thema Klimawandel weiß ich’s, weil Du mich mit langen Listen von Menschen und Institutionen versorgst, damit ich sehe, dass die Skepsis gegenüber Klimawarnungen wohlbegründet ist. Diese Listen sollen zeigen, dass dem internationalen Panel IPCC mit seinen 195 Mitgliedsstaaten und mehr als 1000 Wissenschaftern eine respektable Gegnerschaft gegenübersteht. Ich habe mir daraufhin stichprobenartig einige der genannten „scientists and professionals“ angeschaut und mich gewundert.

"Wir vier Mitschüler sehen es an unseren eigenen Beispielen, dass es immer schwieriger wird, sich auf eine gemeinsame Basis von Fakten, auf klare Gemeinsamkeiten zu einigen."

Der Geologe Don Easterbrook etwa prognostiziert seit 2006 regelmäßig, dass das Klima „in den nächsten Jahren“ abkühlen wird; es hält sich aber nicht an seine Prognosen. Ein weiterer auf der Liste, ein britischer Viscount, hat offenbar noch nie einen begutachteten wissenschaftlichen Artikel geschrieben. Und ein italienischer Forscher hat in Calgary vorgetragen, auf einer Konferenz der „Friends of Science“. Das klingt gut, bis ich dann lese, dass diese Organisation von einem Lobbyisten gegründet und von Öl-, Gas- und Kohleindustrien unterstützt wurde.

Es gäbe noch viel mehr, aber ich möchte mich nicht in Details verlieren. Die grundsätzliche Frage bleibt: Woher beziehen wir unser eingebildetes oder tatsächliches Wissen und die daraus folgenden Überzeugungen?

Spricht das für eine Mauer?

Die soziale Welt, in der wir uns bewegen, beeinflusst und bestärkt uns, das ist klar. Aber sind wir uns dessen so weit bewusst, dass wir gegensteuern, uns anderen Erfahrungen aussetzen, andere Meinungen zumindest überprüfen? Ich bemühe mich, nicht in einem „juste milieu“ aufzugehen, das immer schon weiß, wo’s langgeht, dass z. B. „die Amis“ eh alle spinnen. Zum Beispiel fand ich bedenkenswert, dass Du hinter der menschenfreundlichen Haltung der Demokraten in der Frage der Grenzmauer die Interessen des kalifornischen Agribusiness siehst, das illegale Migranten zu Hungerlöhnen beschäftigt. Ziemlich sicher triffst Du einen wunden Punkt. Aber spricht das für eine Mauer, die auch vor Terrorregimes Flüchtende draußen halten soll? Was würden Deine Eltern dazu sagen?

Bei Dir vermute ich einen Einfluss durch Deine Nachbarn und Freunde in den Wäldern, Individualisten, die vom Staat nichts wissen wollen, die auf ihren Waffen und ihrer persönlichen Freiheit bestehen und Latinos als Schmarotzer betrachten. Libertarian nennt sich diese Mischung. Ich vermute, dass sie Dich geformt hat bzw. Deinen Ansprüchen entgegengekommen ist. Wie oft setzt Du denn Deine Gewissheiten intelligenten Andersdenkenden aus?

Wir beziehen uns auf unterschiedliche, ziemlich klar voneinander getrennte Informationsquellen, vertrauen ihnen wohl auch. Und offenbar kannst Du ebenso wenig meine Wahl dieser Quellen verstehen („fake news, failing media“) wie ich Deine. Du hast mir geschrieben, dass Du überhaupt keine Zeitungen mehr liest, dafür Tucker Carlson auf Fox schaust, der sich praktisch täglich über die Sorgen der Liberalen lustig macht.

Es gibt ja in den Vereinigten Staaten im Unterschied zu früher die wachsende Szene einer Art Humor gegen links. Da wird auf die „liberale Elite“ gezielt, aber eher Klischeehaftes getroffen („Quiche essende, Latte trinkende Volvo-Fahrer!“), keine wirkliche Macht. Als ich einmal den liberalen TV-Comedian Jon Stewart erwähnt habe, der sich oft ein mächtigeres Ziel ausgesucht hat, nämlich Fox News, hast Du ihn als Idioten abgetan.

Wir sehen an unseren eigenen Beispielen, dass es immer schwieriger wird, sich auf eine verbindliche Basis von Fakten zu einigen. Ich denke, das hat uns vier Mitschülern so zu schaffen gemacht: dass wir uns mit Dir nicht mehr auf dem Boden klarer Gemeinsamkeiten befinden. Markus denkt an die Geschichte Deiner Eltern und versteht Deine Haltung zum Migrationsproblem ganz und gar nicht. Wolfgang empfiehlt Therapie, gibt aber zu, dass hier eine „déformation professionnelle“ im Spiel sein könnte, er ist ja Therapeut und Psychiater. Sandro, der immer der Abwägendste von uns war, fragt sich, „ob Du das wirklich bist oder nur so tust“ und wie ein so ironischer und selbstironischer Mitschüler in die reaktionärste Fraktion des politischen Spektrums geraten konnte.

Spaltung auch im Privaten

Was sich in der Gesellschaft im Großen abspielt, diese Spaltung, an der die sozialen Medien noch weiterschrauben, die spüren wir im Privaten, und sie lässt uns wider besseres Wissen nostalgisch werden.

Dylan endet das oben erwähnte Lied mit den Worten, er würde viel dafür geben, wenn sein und seiner Freunde Leben noch so wären wie damals. „I wish, I wish, I wish in vain that we could simply sit in that room again.“

Einige Monate vor dem Wahlsieg Trumps haben mein jüngerer Sohn und ich Dich in Kalifornien besucht. Du hast uns den Betrieb gezeigt, in dem Du hochwertige Teile für Motorräder entwickelst und produzierst. Wir waren abendessen und unterhielten uns prächtig. Über Politik haben wir nicht geredet.

Trotzdem oder gerade deswegen in alter Freundschaft,

Michael

(Michael Freund, ALBUM, 23.11.2019)