Ich möchte über die europäische Utopie von unten sprechen, die das „Neue“ an den Revolutionen von 1989 war. Die 1980er-Jahre waren eine Zeit einer breiten politischen Mobilisierung. Als Reaktion auf die Entscheidung der Reagan-Administration, eine neue, anwendungsfreundlichere Generation von Mittelstreckenraketen in Westeuropa zu stationieren – die Cruise-Missiles und die Pershing-Raketen –, entstand dort eine Massen-Friedensbewegung.
Millionen von Menschen demonstrierten 1981 und 1983, und an allen Raketenstandorten wurden Friedenscamps aufgeschlagen, von denen das von Greenham Common das berühmteste war. Dies war die Zeit des „zweiten Kalten Kriegs“, wie es mein ehemaliger Kollege Fred Halliday einmal ausgedrückt hat – eine Rückkehr zu jener feindseligen Rhetorik und Darstellung militärischer Macht, von denen viele glaubten, dass sie während der Zeit der sogenannten Entspannungspolitik in den 1970er-Jahren verschwunden wären.
In Osteuropa hatte die Entspannungsphase zudem neue unabhängige politische Gruppen hervorgebracht, vor allem im Anschluss an die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki im Jahr 1975. In dieser hatten sich osteuropäische Regierungen – im Gegenzug für Verpflichtungen des Westens auf Wahrung des territorialen Status quo und zur Zusammenarbeit bei wirtschaftlichen und kulturellen Aktivitäten – auf die Einhaltung der Menschenrechte festgelegt, wenn auch in ihren Augen nur pro forma.
Entscheidung über Leben und Tod
Ich gehörte jenem Teil der westeuropäischen Friedensbewegung an, der sich nicht nur als Anti-Atom-Bewegung, sondern auch in Gegnerschaft zum Kalten Krieg verstand, und wir haben explizit eine Verbindung zwischen Demokratie und Abrüstung hergestellt. Den Kalten Krieg sahen wir als eine Art Gemeinschaftsunternehmen oder als „virtuellen Konflikt“ an, bei dem die Bedrohung des Atomkriegs in beiden Hälften Europas als Disziplinierungsmaßnahme diente.
Jalta war nicht nur ein Problem für die Osteuropäer, und die Rückkehr zu Europa war sowohl für westliche Aktivisten als auch für unsere Freunde im Osten relevant. Denn wie können wir uns demokratisch nennen, wenn die Entscheidung über Leben und Tod nicht einmal in den Händen unserer eigenen Politiker liegt, sondern in Washington oder Brüssel getroffen wird? Oder wie es der ungarische Schriftsteller György Konrád ausdrückte: „Der sowjetische und der amerikanische Präsident haben mehr Macht als alle Tyrannen der Geschichte zusammen […]. Ich schaue in diese beiden Gesichter und erbleiche.
Ich würde das Schicksal der Menschheit nicht einmal Aristoteles und Kant anvertrauen.“ Wie können Atomwaffen zur Verteidigung der Menschenrechte benutzt werden, wenn ihr Einsatz Millionen von Menschen töten würde? Es sollte eine Abschaffung von Atomwaffen erreicht werden, nicht allerdings durch eine Übernahme der Macht, sondern durch Veränderung der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft. Daher rührte die Notwendigkeit, sich mit den Bürgerrechtsgruppen in Osteuropa zu vernetzen.
Der Ausdruck „Zivilgesellschaft“
Friedensaktivisten reisten nach Osteuropa, um Kontakte zu den neu entstehenden Aktivistengruppen aufzubauen. Dort entdeckten wir eine ganz neue Sprache, die von osteuropäischen Intellektuellen entwickelt wurde. Der Ausdruck „Zivilgesellschaft“ wurde zu jener Zeit kaum verwendet, außer von den italienischen Kommunisten. Es war der polnische Historiker Adam Michnik, der in einem berühmten Essay mit dem Titel „Der Neue Evolutionismus“ den Begriff wiederbelebt hat.
Sein Argument war, dass gewalttätige Versuche, Regime zu stürzen, immer scheitern würden, weil diese militärisch so stark wären. Vielmehr sollte es das Ziel sein, die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft durch die Eröffnung autonomer, selbstorganisierter Räume wie der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc oder einer „Fliegenden Universität“ zu verändern. Im gleichen Sinne benutzten die Ost- oder Mitteleuropäer Begriffe wie „Antipolitik“ oder „Parallel-Polis“, die auf einer aristotelischen Idee des Guten fußten.
Obwohl es in den Berichten über das Geschehene weitgehend unerwähnt bleibt, verstanden sie ihr Vorhaben als ein globales Projekt. György Konrád war der Erste, der den Begriff „Globalisierung“ in seinem 1985 auf Deutsch veröffentlichten Buch Antipolitik verwendete. Er sprach von einem Atomkrieg als „globalem Auschwitz“, während Václav Havel behauptete, dass das posttotalitäre System nur eine „extreme Variante des globalen Automatismus der technologischen Zivilisation“ sei. Ihm zufolge waren die traditionellen Demokratien auch die Opfer, obwohl sie „auf eine Weise manipuliert werden, die unendlich subtiler und raffinierter ist als die brutalen Methoden, die in posttotalitären Gesellschaften angewendet werden“.
Der Dialog war nicht einfach. Es gab Streitigkeiten innerhalb der westlichen Friedensbewegung, innerhalb der Menschenrechtsbewegungen und zwischen Friedens- und Menschenrechtsbewegungen. In den Friedensbewegungen wurde darüber diskutiert, ob eine Unterstützung der Menschenrechte zum Frieden führen könnte. Einige westliche Friedensaktivisten waren immer noch mit kommunistischen Parteien verbunden, während andere Osteuropa immer noch für sozialistisch hielten, auch wenn der Sozialismus ein wenig vom richtigen Weg abgekommen war. Viele andere betrachteten die Menschenrechte wiederum mit Argwohn, weil sie Teil der Rhetorik des Kalten Krieges waren.
Gespiegelte Differenzen
Diese Differenzen spiegelten sich auch in den osteuropäischen Menschenrechtsgruppen wider: Einige glaubten, dass die militärische Stärke des Westens der einzige Weg sei, um Menschenrechte zu erlangen, und dass die Friedensaktivisten nur Mitläufer seien. Aber gegen Ende des Jahrzehnts begannen viele in Osteuropa zu betonen, dass Entspannung und Abrüstung einen Kontext für die Öffnung Osteuropas darstellen könnten, während viele in der westlichen Friedensbewegung zu der Ansicht gelangten, dass der beste Weg zur Beendigung des Wettrüstens die Demokratie in Osteuropa wäre. Auf der END-Convention 1987 wurde unter dem Druck der Friedensbewegung der INF-Vertrag über die Vernichtung von Mittelstreckenraketen unterzeichnet, was einer neuen Entspannungspolitik den Weg bereitet hat, die es schwierig machte, Proteste einfach zu unterdrücken.
Neuer globaler Diskurs
Es war diese Debatte, die meiner Meinung nach einen neuen globalen Diskurs hervorgebracht hat, der Frieden und Menschenrechte, transnationale Zivilgesellschaft und Humanitarismus miteinander verknüpft und die dramatische Zunahme multilateraler Friedensmissionen, die Stärkung des kodifizierten Völkerrechts und die größere Rolle der globalen Zivilgesellschaft auf globaler Ebene in den 1990er-Jahren motiviert hat.
Zudem hat sie das europäische Projekt vorangetrieben. Die Idee von Europa als Friedensprojekt verband sich zusehends mit Vorstellungen von einer EU-Außenpolitik, die mit der Verbreitung von Menschenrechten und globaler Rechtsstaatlichkeit statt mit traditioneller Geopolitik zu tun hatten.
Der neue liberale Friedensdiskurs nach 1989 hatte seine Blütezeit in den 1990er-Jahren und wurde vom Krieg gegen den Terror und die Rückkehr der Geopolitik in den Hintergrund gedrängt. Die am Dialog Beteiligten hatten gehofft, dass sowohl die Nato als auch der Warschauer Pakt aufgelöst und durch ein neues gesamteuropäisches Sicherheitssystem auf der Grundlage der Helsinki-Prinzipien ersetzt würden. Doch während der Warschauer Pakt tatsächlich aufgelöst wurde, expandierte die Nato. Noch wichtiger ist aber vielleicht, dass beide Hälften Europas von einem Marktfundamentalismus überspült wurden.
Warum haben wir, die wir am Dialog beteiligt waren, die Lehren der Generation unserer Eltern, der Unterzeichner des Manifests von Ventotene, über die zentrale Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit ignoriert? Lag es daran, dass wir dachten, diese Schlachten seien gewonnen, weil wir den Sozialstaat für selbstverständlich hielten? Heute beobachten wir ein tiefes und allgegenwärtiges Misstrauen gegenüber politischen Institutionen. Und dies lässt sich wahrscheinlich mit der Kombination von extremer Ungleichheit und kapitalistischer Vetternwirtschaft erklären, dem Ergebnis von vier Jahrzehnten Neoliberalismus.
Gegen den ungezügelten Kapitalismus
Wir durchleben gegenwärtig einen jener historischen Übergänge, in denen utopistische Ideen plausibel werden. In den letzten zwei Jahrzehnten sind neue Bewegungen gegen den ungezügelten Kapitalismus entstanden wie das Europäische Sozialforum, Occupy oder neue linke Parteien wie Syriza und Podemos. Die Klimastreiks oder die Gruppe Extinction Rebellion lenken die Aufmerksamkeit auf die Verwundbarkeit der Natur, und die Notwendigkeit, sich dem Aufkommen des Rechtspopulismus einschließlich des Brexits entgegenzustellen, erzeugt eine neue Debatte darüber, ob soziale und ökologische Gerechtigkeit Institutionen jenseits des Staates erfordern.
Viele der Probleme, mit denen die Europäische Union konfrontiert ist, haben jedoch mit der Ausbreitung von Konflikten an Orten wie der Ukraine oder Syrien und der Schwächung von Menschenrechtsnormen, insbesondere in Bezug auf Asylsuchende und Einwanderer, zu tun. Der Jahrestag der Revolutionen von 1989 erinnert uns daran, dass jede neue europäische Utopie von unten, die sich auf soziale und ökologische Fragen konzentriert, auch die Ideen von 1989 in sich aufnehmen muss, die das Potenzial haben, die Probleme von Krieg und Vertreibung anzugehen, die unseren Kontinent umgeben. (Mary Kaldor, ALBUM, 27.11.2019)