Der Festsaal der Sir-Karl-Popper-Schule in Wien-Wieden ist gesteckt voll, die Türen müssen offen bleiben, bis auf den Gang hinaus stehen Schüler und drängen in den Raum. Einige von ihnen haben Schilder der Fridays-for-Future-Demo dabei, verstauen sie zwischen den grauen Stuhlreihen oder lehnen sie in die Ecken des Raums. Obwohl sie bis vor kurzem fürs Klima gestreikt haben, sitzen sie jetzt freiwillig in ihrer Schule, gedrängt und auf dem Boden, weil es nicht genug Plätze gibt.

Bis auf den Gang standen Schüler und Lehrpersonal, um der Geschichte zu lauschen.
Foto: Robert Newald

Der Grund des Andrangs: Stanisław Zalewski, der auf Einladung der polnischen Botschaft in Wien ist, erzählt den Jugendlichen seine Geschichte. Zalewski ist 94 Jahre alt, Pole und Überlebender mehrerer Konzentrationslager.

Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, lebt Zalewski in Warschau, steht kurz vor dem 14. Geburtstag. "Ich war so alt wie ihr", sagt er auf Polnisch, eine Dolmetscherin übersetzt für die Schüler. Er will "Widerstand leisten gegen das Dritte Reich". Zalewski ist in der Gruppe "Die kleine Sabotage" aktiv, schmiert "patriotische Sprüche an die Wände – so wie Graffiti". Im September 1943 wird er bei einer dieser "Malaktionen" von den Deutschen aufgegriffen und in ein Gestapo-Quartier gebracht. Nach 23 Tagen im Pawiak-Gefängnis wird der damals 18-Jährige am Abend des 5. Oktober in einen Zug gesetzt. Häftlinge, die die Strecke kennen, sagen, dass sie in Richtung Krakau und damit nach Oświęcim fahren, erzählt Zalewski: "In das nationalsozialistische Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau."

Bis heute präsent

Zalewski sitzt auf einem Sessel vor einem kleinen Tisch auf der Bühne des Festsaals, den Gehstock angelehnt. Sein Sakko hat er über die Lehne gehängt, die grauen Haare streng nach hinten gekämmt. Den Schülern erzählt er eindringlich vom schrecklichen Alltag in Auschwitz, erzählt, wie er beobachtet, dass sich Frauen, die als nicht mehr arbeitsfähig gelten, nackt ausziehen müssen, "wie Waren" auf einen Lastwagen geladen und ins Krematorium abtransportiert werden. "Der Rauch, der dann aufgestiegen ist, hat uns gezeigt, was mit ihnen passiert ist", sagt er. Die Schreie der Frauen seien "Schreie, die bis heute in meinem Unterbewusstsein präsent sind". Im Saal ist es still.

Stanisław Zalewski spricht Polnisch, eine Übersetzerin hilft den Schülern, seine Erzählungen zu verstehen.
Foto: Robert Newald

Ob angesichts der aktuellen politischen Lage auch heute solch grausame Dinge möglich sind, will eine junge Schülerin wissen. "Wenn ich mir die Welt anschaue, sehe, wie in anderen Teilen der Welt tausende Menschen umgebracht werden, muss ich leider schlussfolgern, dass die Menschen aus der Tragödie des Zweiten Weltkriegs nichts gelernt haben", sagt der 94-Jährige. Doch: "Ihr habt die Verantwortung, wie die Welt aussehen wird. Es muss zur Versöhnung der Völker kommen", appelliert er und erntet Applaus von den Jugendlichen.

31 Tage ist Zalewski in Auschwitz-Birkenau. Häftlinge, die für die Rüstungsindustrie geeignet sind, werden ausselektiert, sagt Zalewski. Als ehemaliger Automechaniker ist er unter ihnen. Während er erzählt, krempelt er die Ärmel seines hellblauen Hemds hoch. "In Auschwitz bekamen fast alle Häftlinge die Nummer auf den Unterarm", sagt er. "Ich habe meine Tätowierung hier." Er zeigt die Innenseite seines Oberarms, dort steht "101125". Er vermutet, dass er bereits bei der Nummernvergabe ausgewählt wurde, wisse es aber nicht.

Von Auschwitz werden Zalewski und andere Häftlinge im Viehtransporter nach Mauthausen gebracht. In dem Konzentrationslager auf oberösterreichischem Boden angekommen, werden die Männer im November im Freien gebadet, erhalten nur Unterwäsche zum Anziehen und müssen fünf Kilometer zu Fuß nach Gusen gehen. "Man hat uns dort als den Unterhosenzugang bezeichnet", sagt er.

Nach acht Monaten im Arbeitskommando Messerschmitt wird Zalewski dem Kommando Bergkristall in Gusen II zugeteilt. "Das Lager wurde von den Häftlingen als Schlund der Hölle bezeichnet. Es war das Schlimmste, was man sich vorstellen kann." In dem Stollen ist Zalewski an der Herstellung von Flugzeugteilen beteiligt, bis das Lager im Mai 1945 befreit wird.

Zwiespalt über Begegnungen

"Haben Sie je geglaubt, dass Ihnen Ihr Ende bevorsteht?", fragt eine Schülerin. "Es gab einige dieser Momente", antwortet Zalewski. Eine Erfahrung möchte er erzählen, um die "Psychologie der Häftlinge" zu beschreiben: In Gusen wird Zalewski krank, hat Eiterbeulen an den Beinen und geht ins Lagerkrankenhaus. Einer der Häftlinge, die "privilegierte Arbeiten" verrichten, nimmt ihn auf. Er ist wie Zalewski Pole, sie unterhalten sich über eine Konditorei in Warschau. Der Mann ist nett zu Zalewski, gibt ihm die Pritsche neben dem Ofen und sorgt dafür, dass er von den Ärzten besser versorgt wird. Der Mann habe ihm das Leben gerettet, ist sich Zalewski sicher. Doch: "Als ein Häftling in der Nacht aufstand und in den Waschraum gegangen ist, hat er ihn mit einem Stock erschlagen", sagt Zalewski, der das beobachtet hat. "Dass ich hier so friedlich über diese Sachen spreche, heißt nicht, dass ich nicht im Inneren diese schrecklichen Dinge wieder und wieder erlebe."

Stanisław Zalewski erzählt den Schülerinnen und Schülern der Sir-Karl-Popper-Schule in Wien seine Geschichte.
Foto: Robert Newald

Nach dem Gespräch stehen viele Schüler bei dem alten Mann an, um ihm zu danken und weiter mit ihm zu sprechen. "Seine Energie ist beeindruckend", sagt Julia. Mit Zalewski redet sie Polnisch. "Meine Großeltern sind Polen, sie sind aber geflohen."

Die 14-jährige Keani ist beeindruckt, dass "ein Mensch, der das alles erlebt hat, immer wieder darüber redet, egal wie weh das tun muss". Sie habe zwar über den Holocaust gelernt, aber wenn ein Mensch seine Lebensgeschichte erzähle, sei das etwas anderes: "Viel emotionaler. Man merkt, wie wichtig ihm ist, dass wir wissen, was passiert ist. Für mich ist es eine andere Welt."

Weiter erzählen

Dass das persönliche Gespräch mit Zeitzeugen für Schüler intensiver ist, als über den Holocaust aus Büchern zu lernen, weiß man auch im Bildungsministerium – seit Mitte der 1970er-Jahre fördert dieses Unterrichtsbesuche und unterstützt mit dem Holocaust-Education-Institut Erinnern.at beim Lehren über den Nationalsozialismus. Beschäftigt habe in den vergangenen Jahren – wegen des hohen Alters der Überlebenden – die Frage, wie die Erzählung weitergehen kann. Denn 2018 haben nur noch 17 Zeugen – unterstützt durch ein ausgebildetes Begleiterteam, das bei der Vor- und Nachbereitung hilft – zu den Schülern gesprochen. An 195 Schulen erreichten sie 11.517 Jugendliche. Aus dieser Not heraus ist jüngst das Projekt "Weiter erzählen", eine Sammlung von Videointerviews mit Überlebenden, entstanden.

Mehrfach besuchte der 94-Jährige die Stätten seiner Gefangenschaft. Im Jahr 2017 traf er bei der Feier zum 72. Jahrestag der Befreiung des Lagers Mauthausen Bundespräsident Alexander Van der Bellen.
Foto: APA/BUNDESHEER/PETER LECHNER

Jahrzehnte nach seiner Befreiung reist Zalewski, der sich als Vorsitzender der Vereinigung Ehemaliger Politischer Häftlinge der NS-Gefängnisse und Konzentrationslager engagiert, "als Tourist", wie er sagt, zurück – nach Auschwitz, Mauthausen und Gusen. Mehrmals. In den 1980er-Jahren ist er erstmals wieder in Gusen. "Ich bin fast zur Salzsäule erstarrt", erinnert er sich. Dort, wo einst das Lager war, stehen heute Villen und Einfamilienhäuser. (Oona Kroisleitner, 22.11.2019)