Im Jahr 2018 hat Exit 905 Freitodbegleitungen durchgeführt.

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Ich hatte einen Freund, und es fühlt sich so an, als hätte ich ihn noch. Wir kannten uns lange, seit über 30 Jahren. Mochten uns. Aber es gab immer wieder auch längere Pausen. Er meldete sich nicht, ich rief nicht an. So war die Freundschaft, aber wir haben uns nie aus den Augen verloren. Ich lernte Max während des Studiums in Zürich kennen. Er war schnell im Kopf, sensibel, talentiert. Das gefiel mir. Gleichzeitig war er auch besserwisserisch, hatte hohe Ansprüche an sich und die anderen. Wir debattierten gerne, eine Tradition, die im Studium begann.

Müsste ich Max beschreiben, würde ich ihn wohl als schwer zugänglich bezeichnen, als einsamen Wolf vielleicht, der den Menschen gegenüber eher misstrauisch war. Er hatte nie sehr lange Liebesbeziehungen, immer Ärger mit Arbeitgebern, lebte asketisch, trug stets dieselbe Kluft: schwarze Jeans und weiße Hemden. Sein Markenzeichen: der Drum-Tabak. Zigaretten drehen und rauchen war für ihn wohl mit einer Vorstellung des Sich-lebendig-Fühlens verbunden. Max, ein schwieriger, widersprüchlicher Freund.

Im Sommer vor drei Jahren fiel mir auf, dass er sich körperlich verändert hatte. Beim Abendessen hatte er wenig Appetit. Er hustete stark, und als wir uns verabschiedeten, meinte er, er würde vielleicht einmal zum Arzt gehen. Selbstfürsorge, das war leider nicht sein Ding. Kurz vor Weihnachten wurde bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert. Stark fortgeschritten, sagten die Ärzte. Max überlegte, ob er sich überhaupt einer OP und Chemotherapie unterziehen sollte.

Schwierige Zeiten

Aber dann, ja, doch, er hatte berufliche Pläne, wollte weiterleben. Vielleicht ahnte ich es zu Beginn eher, als ich es wusste: Ich wurde für Max eine wichtige Bezugsperson in solchen Überlegungen. Ich denke, dass ich das auch sein wollte. Nähe ist immer auch eine Chance.

Ich sah Max fortan regelmäßig. Die Behandlung sollte ihn schwer mitnehmen. Es bürgerte sich ein, dass ich ihn einmal pro Woche zum Mittagessen besuchte. Immer mittwochs von 12 bis 16 Uhr. Wir debattierten wie eh und je. Max verwarf die Möglichkeit des Sterbens, er würde wieder gesund werden, nahm er sich vor, er wolle leben. Worunter er während der vielen Chemos am meisten litt, war der Verlust seines Geschmacks- und Geruchssinns. Das, was er roch und wie er es schmeckte, stimmte nicht mehr überein. Die einzige Ausnahme: Thai-Curry mit Huhn, das ich ihm fortan aus immer demselben Restaurant in Zürich mitbrachte. Er wollte es bezahlen, ich wollte das nicht, und wir brauchten ein paar Mittwoche, bis er dieses Geschenk von mir annehmen konnte. Es waren solch kleine Dinge, die uns stärker als in allen Jahren zuvor zusammenwachsen ließen. Wir teilten die Traurigkeit über die Erkrankung, die Wut. Er, der immer hagerer wurde, entwickelte eine mystische Sicherheit, dass alles wieder gut werden würde.

Im Frühsommer 2018 wurden Metastasen in Leber und Gehirn entdeckt. Max machte eine Patientenverfügung. Wir sprachen darüber, was zu tun wäre, wenn dieser oder jener körperliche Zustand eintritt. Er sehnte sich danach, noch einmal das Meer zu sehen. Wir redeten, wohin wir fahren würden. Aber immer kamen eine Therapie, ein Infekt oder Schmerzen dazwischen. Ein Wochenende auf dem Land ist sich ausgegangen. Das war berührend und schön, ich glaube auch für ihn.

Angst vor Kontrollverlust

Eines Tages, es war im Winter 2019, versagte seine rechte Hand. Die Metastasen im Gehirn verursachten Lähmungen. Darüber ist er erschrocken. Ich glaube, weil er merkte, dass ihm die Kontrolle über seinen Körper entglitt. Wir kamen auf Exit zu sprechen, jenen Verein, dem in den letzten Jahren auch einige Leute, die wir kannten, beigetreten waren. Zu Beginn ging es um formelle Fragen: dass man dort Mitglied werden müsse, dass man eine ärztliche Bescheinigung für die Unheilbarkeit der Erkrankung braucht und dass das Rezept für die tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital immer nur drei Monate gültig ist. Als Freund konnte ich nicht mehr tun, als für ihn da zu sein. Ich bot Max an, ihn beim Sterben mit Exit zu begleiten, wenn er sich dafür entscheiden und sich mich als Zeugen wünschen würde. Er nahm mein Angebot dankbar an. Dann weinten wir beide lange. Zugegeben: Ich hatte Angst, was da auf mich zukommen würde, aber trotzdem fühlte sich mein Angebot richtig an. Und gut.

Max wurde Mitglied, hatte Gespräche mit den Leuten von Exit. Er erzählte wenig darüber. Ich glaube, dass er nicht lebensmüde war, aber er hat sich mehr als alles andere vor Abhängigkeiten gefürchtet, vor dem Verlust der Selbstbestimmtheit. Das Rezept für die tödliche Dosis Beruhigungsmittel war eine Art Pfand für diese Selbstbestimmtheit, das er einstweilen auch nicht einlöste. Denn die Behandlung ging ja weiter. Er schimpfte oft über die Ärzte, auch als eine Immuntherapie als letzte Chance nicht wirkte. Nie war ihm klar, ob sie, wenn sie mit ihm sprachen, auch wirklich ihn als Person meinten. Ich hörte seine Verzweiflung – war überfordert.

Selbst verabreichen

Dann hatte er einen epileptischen Anfall. Wer sich entscheidet, mithilfe von Exit seinem Leben ein Ende zu setzen, muss zurechnungsfähig sein und sich die Medikamente selbst verabreichen können. Es gibt zwei Optionen: das Pulver in Wasser aufzulösen und zu schlucken oder die tödliche Dosis als Infusion. Dabei muss man es jedoch noch schaffen, die Tablette selbst einzunehmen, den Infusionshahn selbst aufzudrehen. Max wollte Letzteres.

Es war Ostern 2019. Max war austherapiert, das hatte er nun akzeptiert, er hatte Metastasen im Gehirn, die ihm weitere unberechenbare körperliche Ereignisse bescheren würden. Er wurde schwächer, wollte immer noch weiterleben, doch erkannte er die Perspektivlosigkeit. Ein assistierter Suizid würde eine Art Abkürzung in den Tod sein, so sah er das.

Als er mich eines Tages anrief und mir sagte: "In zwei Wochen musst du kommen", war es trotzdem ein Schock. Wir hatten viel geredet, aber es dann auch zu tun war etwas anderes. Zwischen Fantasie und Handlung liegt eine riesige Kluft. Sehr bald würde auch meine Zeit mit Max zu Ende sein. Das wollte ich nicht wahrhaben, konnte es mir nicht vorstellen. Ich brauche noch Zeit, dachte ich.

Termin verschoben

Und dann wurde der Termin auch noch nach vorn verschoben. In zwei Tagen, an einem Sonntag um 16.30 Uhr, würde es stattfinden, sagte er am Telefon und verabschiedete sich mit "Bis dann!". Es war Freitagmorgen. Das kam mir zu schnell. Max hatte meine Gefühle nicht mehr mitdenken können.

Darum überfiel ich ihn am Freitagabend mit einem Besuch. Das hatte ich noch nie gemacht. Er freute sich, war sichtlich erleichtert. Ich hatte Pfingstrosen mitgebracht. Max liebte Blumen über alles. Es wurde unser letzter gemeinsamer Abend, eine schwierige Situation, aber auch viel Nähe. Wir waren traurig und benommen zugleich. Es braucht viel Mut, sich gegen das Leben zu entscheiden.

Für den Termin am Sonntag holte ich das gewohnte Thai-Curry zum Mittagessen. Max war ganz klar im Kopf, er war entschieden und hatte eigentümlicherweise keine Schmerzen mehr. Seine Schwester war da. "Redet doch was", forderte er uns immer wieder auf. Aber irgendwie war alles gesagt, in einer solchen Situation lässt sich kein neues Thema mehr beginnen, weil es nicht mehr beendet werden kann. Es wurden sehr ruhige letzte Stunden miteinander. Max zog sich ein weißes Hemd an. Wir sprachen darüber, ob er, der zu Hause gerne barfuß ging, Schuhe anziehen wollte. Ja, er wollte Schuhe, weil er auch nicht im Bett, sondern auf der Couch sterben wollte.

Zu Ende bringen

Dann klingelte es. Zwei Frauen von Exit brachten in diesen Sonntagabend eine Art geschäftiges Treiben. Max rauchte seine letzte Zigarette, legte sich hin. Wo die Infusion aufhängen? Max hatte keinen Infusionsständer. Schließlich wurde ein Bilderhaken über der Couch umfunktioniert.

Die Mitarbeiterinnen von Exit arbeiten ehrenamtlich. Die Frau, die Max schließlich die Nadel in die Vene stach und seinen Körper mit einer Kochsalzlösung auf das hochdosierte Schlafmittel vorbereitete, war Krankenschwester. Die andere Mitarbeiterin machte ihre Arbeit aus Liebe zu den Menschen, wie sie sagte, weil sie Leid abkürzen will. Natrium-Pentobarbital führt innerhalb von Minuten zu Atem- und Herzstillstand. Mit der Kochsalzlösung übte Max das Aufdrehen des Infusionshahns, nach ein paar Versuchen klappte es. Wir hatten vereinbart, dass ich seine Hand halten würde. "Sind Sie bereit?", fragte die Krankenschwester. "Ja", antwortete Max.

Keine drei Atemzüge

Ich war überrascht, dass Natrium-Pentobarbiturat die Kochsalzlösung rot färbt. Die Krankenschwester spritzte sie in den Infusionsbeutel. Wir sahen zu, wie sie in die Armvene lief. Vom Aufdrehen bis zum Einschlafen vergingen keine drei Atemzüge. Nach gefühlten 15 Sekunden hob sich sein Brustkorb nicht mehr. Er schlief, ohne zu atmen, schien mir. Wie leicht der Tod sein kann, dachte ich, wie entspannt, wie friedlich mein Freund da auf seiner Couch liegt. Und gleichzeitig fühlte ich die Unwiederbringlichkeit dieses Lebens in aller Wucht. Ich würde ihn nie mehr wiedersehen, nie mehr debattieren. Doch sein Leben hat so geendet, wie er es wollte, insofern war sein Freitod eine Gnade.

Exit hat alles so wie mit Max geplant und besprochen abgewickelt. Professionelle Arbeit, sehr respektvoll. Trotzdem bleibe ich ambivalent. Oft, meist mittwochs, vermisse ich Max, diesen widerborstigen, strengen Freund mit seinen losen Enden, die ich nie wieder einfangen werde. (Karin Pollack, 23.11.2019)