Foto: Fischer Tor

Da hat sich Fischer Tor jetzt gewissermaßen selbst auskonkurrenziert. Eigentlich lag bei mir schon eine neue Sammlung von H. P. Lovecraft bereit, die der Verlag im Oktober herausgegeben hat ("Cthulhus Ruf"). Doch dann ist kurz vor Annahmeschluss noch dieser Titel eingetrudelt. Und nachdem die Plätze in der Rundschau begrenzt sind und ich mit Lovecraft sowieso meine Probleme habe, habe ich letztlich dem Reiz des noch Unbekannten den Vorzug gegeben. Und es nicht bereut!

Makellos verwoben

Ein wesentlicher Teil des Vergnügens an "Vicious" liegt darin, dass US-Autorin Victoria "V. E." Schwab eine im Prinzip einfache Geschichte – Urban Fantasy mit Anklängen an die TV-Serie "Heroes" – sehr geschickt konstruiert hat, ohne dabei aber unnötig kompliziert zu werden. Die Kapitel laufen nicht in chronologischer Reihenfolge ab. Es wird mal um Jahre, mal nur um Stunden von der Gegenwartsebene zurückgesprungen, wodurch die aktuellen Geschehnisse immer wieder in ein neues Licht gerückt werden.

Nach und nach enthüllt Schwab auf diese Weise die Querverbindungen zwischen den Protagonisten, und auch deren jeweilige Vorgeschichte bringt so manchen Twist mit sich. Da ist man fast schon überrascht, dass der Hund, den eine der Figuren adoptiert hat, nicht auch noch ein bedeutungsschwangeres Vorleben hatte, so konsequent ist Schwabs Garn verwoben.

Zum Plot

Zehn Jahre vor der aktuellen Handlungszeit suchen die beiden Studenten Victor Vale und Eliot Cardale an der fiktiven Lockland University nach einem Thema für ihre Abschlussarbeit und wählen schließlich die ExtraOrdinären – Menschen mit besonderen Kräften. Als sie entdecken, dass alle EOs irgendwann einmal ein Nahtoderlebnis hatten, kommen sie auf eine fatale Idee: Das könnte man doch reproduzieren. Also setzen sie sich selbst für ein paar Minuten dem Tod durch Drogen respektive Erfrieren aus, und – tadah! – es funktioniert. Victor hat nach seiner Wiederbelebung die Fähigkeit, bei sich selbst wie auch bei anderen Schmerzen wahlweise zu lindern oder zu verstärken, während Eliot Selbstheilungskräfte erlangt. Und doch kann man nicht von einem Erfolg sprechen. Eine tragische Verkettung von Umständen macht die beiden Freunde einander spinnefeind.

In der Gegenwart ist Eliot, der sich jetzt Eli Ever nennt, Victors Nemesis. Und umgekehrt. Victors gelinde gesagt kompliziertes Verhältnis zu Eli beschreibt Schwab so: Hass war ein zu simples Wort. Zwischen ihm und Eli bestand eine tiefere Verbindung aus Blut, Tod und Wissenschaft. Sie ähnelten einander, jetzt noch mehr als früher. Und er hatte Eli vermisst. Er wollte ihn gerne wiedersehen. Er wollte ihn leiden sehen. Er wollte den Blick in Elis Augen sehen, wenn er ihm Schmerzen zufügte. Er wollte seine Aufmerksamkeit.

Und nicht nur die Dualität ist an Superheldengeschichten angelehnt, es gibt auch Sidekicks: In Victors Fall ist es das zwölfjährige Mädchen Sydney Clarke, das Tote wiedererwecken kann. Eli wiederum wird von einer Frau begleitet, deren Identität und Kräfte zunächst noch geheim bleiben. Der Plot von "Vicious" dreht sich nun ganz darum, wie diese kleine Personenkonstellation auf Kurs Richtung finaler Showdown gebracht wird. Und immer mehr fragt sich der Leser dabei: Wer ist in diesem Showdown jetzt eigentlich der Gute und wer der Böse?

Schwarz und schwärzer

Viele Autoren leiten ihre Bücher oder sogar sämtliche Kapitel in einem Buch mit klangvollen Zitaten ein, und oft gewinnt man dabei den Eindruck, dass diese außer einer Belesenheitsdemonstration keinen Zweck erfüllen. Nicht so hier. Schwab hat ihrem Roman einen Satz von Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky vorangestellt: "Das Leben – das echte Leben – ist kein Kampf zwischen Gut und Böse, sondern zwischen Böse und etwas Schlimmerem." Und das ist exakt, worum es in "Vicious" geht.

Nur ... wer ist jetzt der "noch Schlimmere"? Victor, bei dessen Perspektive wir in der ersten Hälfte des Romans bleiben, zeigt jedenfalls keinerlei Anzeichen dafür, die positive Hälfte des Duos zu sein. Er ist berechnend bis zur Skrupellosigkeit, von Rachegelüsten getrieben und hochmütig. Und wie uns die Rückblicke in die Studentenzeit zeigen, hegte er schon damals Ressentiments gegen seinen Freund, gespeist vom tiefsitzenden Frust, immer nur der Zweite zu sein. Erst in der zweiten Romanhälfte werden wir Elis Sichtweise kennenlernen und dann vielleicht wissen, wie wir unseren moralischen Kompass ausrichten müssen. Diese Ambiguität, zusammen mit der Konstruktion der Erzählung, macht Schwabs Roman zu einer fiesen kleinen Freude.

... mit Fortsetzung übrigens. "Vicious" ist zwar in sich abgeschlossen, aber fünf Jahre nach dessen Erfolg hat Schwab dann doch noch ein Sequel folgen lassen. Für deutschsprachige Leser ist die Wartezeit deutlich kürzer: Die Übersetzung von "Vengeful" wird schon nächsten Sommer erscheinen.