Wien – Peter Seisenbacher hat noch immer Rückhalt. Als der 59-Jährige Montagvormittag von den Justizwachebeamten aus der Untersuchungshaft in den Großen Schwurgerichtssaal geführt wird, steht ein weißhaariger Herr auf und klatscht. Der Angeklagte dreht sich kurz um und reckt zum Dank den rechten Daumen nach oben, ehe er auf dem Anklagestuhl Platz nimmt.

Schwerer sexueller Missbrauch in zwei Fällen und Missbrauch das Autoritätsverhältnisses in einem Fall werden dem zweifachen Olympiasieger im Judo vorgeworfen. Er soll als Trainer im Nachwuchsbereich laut der von Ursula Schrall-Kropiunig verfassten Anklageschrift zwischen 1999 und 2004 geschlechtliche Handlungen mit zwei Schützlingen durchgeführt haben, bei einem dritten Mädchen soll er es versucht haben. Im Dezember 2016 hätte er deshalb schon vor Gericht erscheinen müssen – er tauchte jedoch vor der Verhandlung ab.

Bei Seisenbachers Auftritt im Großen Schwurgerichtssaal applaudierte ein Zuseher – der Angeklagte reagierte darauf mit "Daumen hoch".
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Nun ist er hier vor dem Schöffengericht unter Vorsitz von Christoph Bauer, und Staatsanwältin Schrall-Kropiunig wagt einen Blick in den Kopf des Sportidols. "Dass es taktisch nicht klug war, der Verhandlung fernzubleiben, weiß Herr Seisenbacher wohl selbst", sagt sie in ihrem Eröffnungsplädoyer. Gleichzeitig korrigiert sie mediale Falschmeldungen: Die Flucht sei kein Straftatbestand, daher werde sie die Anklage natürlich nicht ausdehnen.

Die Person sowie Flucht des Angeklagten sei aber nicht das einzig Außergewöhnliche an dem Fall. Ungewöhnlich sei auch, dass K., eines der mutmaßlichen Opfer, mittlerweile ihr Geschlecht gewechselt hat und als Mann beruflich erfolgreich ist. Das "eine hat mit dem anderen rein gar nichts zu tun", stellt K.s Privatbeteiligtenvertreterin Eva Plaz klar.

30- bis 40-mal soll ihr Mandant damals vor allem während Wochenend- und Ferientrainingslagern von Seisenbacher missbraucht worden sein, steht in der Anklage. Beim zweiten Mädchen soll es nur einmal bei einer Massage zu einem Delikt gekommen sein. Im dritten Fall war das Opfer 16, sie konnte Berührungen im Intimbereich verhindern.

Verteidiger Bernhard Lehofer kennt seinen Mandanten aus Judokreisen seit 40 Jahren.
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Verteidiger Bernhard Lehhofer spricht die Gretchenfrage in seinen Eröffnungsworten unverblümt an: "Warum ist Seisenbacher abgehauen?" Er beantwortet sie auch gleich: "Es war eine Kurzschlussreaktion." Die Geburt von Seisenbachers jüngstem Sohn sei im Dezember 2016 knapp bevorgestanden, der Judoka habe die Medienberichte als Vorverurteilung gesehen und glaubte überdies noch an einen Promi-Malus vor Gericht.

Er, Lehofer, sei selbst in der Judoszene und kenne Seisenbacher schon seit 40 Jahren, und die Vorwürfe würden einfach nicht in dessen Persönlichkeitsprofil passen. Auch Umfelderhebungen der Polizei hätten ergeben: "Nix ist passiert, niemandem ist je etwas aufgefallen." Eine Darstellung, die Vorsitzender Bauer wenig später zerlegt.

"Ich habe keine Erklärung"

Doch zunächst will Bauer vom unbescholtenen Angeklagten wissen, was er selbst zur Anklage sagt. "Nicht schuldig", antwortet das frühere Sportidol knapp. "Wenn Sie unschuldig sind, haben Sie eine Erklärung, warum drei Menschen Sie belasten?" – "Ich habe keine Erklärung, es gibt aber Vermutungen, ich hoffe, dass mein Verteidiger Sie darlegt", gibt sich Seisenbacher zunächst kryptisch.

Im Laufe seiner Einvernahme wird klar, was er damit meint. Er sagt, die drei Mädchen hätten sich schon damals gekannt und würden noch immer Kontakt halten. "Sie hatten viel Zeit, sich abzusprechen", glaubt der Angeklagte. "Sie meinen, sie haben sich verschworen?", bringt Bauer es auf den Punkt. "Davon gehe ich aus." Auch psychische Probleme der mutmaßlichen Opfer stellt er in den Raum.

Komplizierte Verhältnisse

Und schließlich, dass auch K.s Mutter ein Motiv habe, Teil der Verschwörung zu sein. Die war die Gattin eines ehemaligen Arbeitskollegen Seisenbachers, als er mit ihr ein sexuelles Verhältnis anfing. Man sei aber allseits über die Jahre in freundschaftlichem Kontakt geblieben, offenbart der Angeklagte und sorgt dann für Erstaunen: Die Mutter habe mit K. auch Sexualpartner geteilt. Er selbst habe aber mit der sportlich erfolgreichen Tochter nie eine Beziehung gehabt, beharrt Seisenbacher.

Vorsitzender Bauer baut seine Einvernahme rhetorisch nicht ungeschickt auf. Er stellt dem sehr ruhig wirkenden und bedächtig formulierenden Angeklagten einfache Fragen, die er sich bestätigen lässt. Beispielsweise, ob er bei Trainingslagern oder Turnieren je mit Schützlingen in einem Bett geschlafen habe. "Das schließe ich aus!", erwidert Seisenbacher bestimmt.

Senatsvorsitzender Christoph Bauer ist über manche Aussagen hörbar überrascht.
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Allerdings sagen das nicht nur die mutmaßlichen Opfer, sondern auch eine damals 16-jährige Sportlerin, der eine einvernehmliche Beziehung zum Angeklagten hatte. "Die bilden sich das alle ein?", wundert sich der Vorsitzende. "Es gab keine Notwendigkeit, in einem Bett zu schlafen", beharrt Seisenbacher.

Der sich dann einem für ihn unangenehmen Dialog mit Bauer stellen muss. Es geht um den Teenager: "Die war 16. Und Sie?", fragt Bauer. "Ich habe mich ziemlich jung gefühlt", weicht Seisenbacher aus. "Wie alt waren Sie?", lässt der Vorsitzende nicht locker. "Um die 40." Der Altersunterschied dürfte bereits damals für Aufsehen gesorgt haben.

Ein anderes Beispiel für Bauers Strategie: "Haben Sie irgendeine Art nichtstrafbaren Kontakt mit K. gehabt?", fragt er interessiert. "Ich wüsste nicht, was Sie meinen." – "Zum Beispiel kein Küsschen, aber einen Kuss, auch wenn sie schon älter war." – "Einen Kuss kann ich ausschließen."

Konfrontation bei Hochzeit der Tochter

Worauf der Vorsitzende Seisenbacher vorhält, was einer seiner langjährigen Freunde bei der Polizei im Juni 2014 zu Protokoll gegeben hat. Demnach soll dieser Freund Seisenbacher bei der Hochzeit seiner Tochter mit der Missbrauchsanzeige durch Mutter K. konfrontiert haben. Worauf Seisenbacher gesagt habe: "Es sei etwas gewesen, aber im gesetzlich erlaubten Alter." Der Angeklagte bestreitet das und wird wieder nebulös: "Wenn Sie einen Freund haben, sehen Sie über gewisse Persönlichkeitsmerkmale hinweg."

Dieser Freund erweist sich schließlich als wahrer – vor Gericht zieht er die belastende Aussage nämlich völlig zurück. "Können Sie sich an die Einvernahme bei der Polizei noch erinnern?", beginnt Bauer. "Es ging darum, dass der Peter eben ... es ging um Minderjährige", stottert der Zeuge.

Vor Gericht erinnert sich der Geschäftsmann so: Er habe von Mutter K. von der Anzeige erfahren und Seisenbacher darauf angesprochen. "Wie hat er reagiert?", will der Vorsitzende wissen. "Sehr überrascht. Er hat gesagt, 'Des gibt's ja ned', und versuchte gleich zu telefonieren. Danach haben wir nicht mehr darüber gesprochen."

Fassungsloser Vorsitzender

Bauer ist ob dieser Aussage fassungslos und hält dem Zeugen das von diesem unterschriebene Polizeiprotokoll vor. Wo eben nicht nur steht, Seisenbacher habe gesagt, er "habe mit K. etwas gehabt, aber im gesetzlich erlaubten Alter". Sondern auch dezidiert die Aussage des Zeugen: "So hat er (Seisenbacher, Anm.) sich ausgedrückt."

Der Zeuge bleibt dabei: Bei der damaligen Konfrontation habe Seisenbacher gelächelt, das habe er als Ja interpretiert. Er habe in 40 Jahren mit Seisenbacher nie über dessen Sexualität gesprochen. Aber auch nie an die Vorwürfe geglaubt.

Interessanterweise soll der Zeuge allerdings seiner Frau sowie K. und dessen Mutter nach der Hochzeit der Seisenbacher-Tochter sehr wohl von der ursprünglichen Antwort erzählt haben. Heute bleibt er dabei, er habe nur "Peters lächelnde Antwort" so interpretiert. Bei der Polizei "habe ich beim Rausgehen das Protokoll nur überflogen, da ich es wie immer eilig hatte", behauptet er auch. "Ich habe dem damals nicht diese Wichtigkeit beigemessen", fügt er zum Unglauben der Staatsanwältin noch hinzu.

Die Glaubwürdigkeit der mutmaßlichen Opfer lässt sich nicht beurteilen, da die ihre Aussagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit machen. Am 2. Dezember wird fortgesetzt, dann könnte es auch ein Urteil geben. (Michael Möseneder, 25.11.2019)