Ungleichheit ist politisch höchst relevant. Oft erzählen uns Einkommens- und Konsumverteilung jedoch auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Geschichten. Brandneue Daten zeigen, dass die beiden Ungleichheitsdimensionen unterschiedlich auf makroökonomische Entwicklungen und Umverteilung durch den Wohlfahrtsstaat reagieren. Um die Verteilung der wirtschaftlichen Entwicklung besser nachvollziehen zu können, müssen wir verstehen, warum und wie sich Einkommens- und Konsumverteilung unterscheiden.

Gibt man in Google Ngram Viewer "income inequality" ein, erhält man ein Diagramm mit der Häufigkeit des Schlagwortes im gesamten Textkorpus von Google im Zeitverlauf. Die Kurve zeigt seit Ende des zwanzigsten Jahrhunderts steil nach oben. Ungleichheit wird zunehmend öffentlichkeitsrelevant. Insbesondere in den letzten Jahren hat die Debatte zur ökonomischen Ungleichheit an Fahrt aufgenommen. Globale Organisationen wie OECD, IMF und Weltbank weisen auf die negativen Folgen von steigender Ungleichheit für Wirtschaftswachstum, aber auch den sozialen Zusammenhalt hin.

Welche Zahl zählt? Einkommen versus Konsum

Gleichzeitig ist Ungleichheit politisch äußerst kontrovers. Das beginnt schon bei der Frage, wie man Verteilung überhaupt messen soll. Ein gutes Beispiel sind die USA. Während diskutiert wird, ob Konsum ein besseres Maß für Lebensstandard ist als Einkommen, wurde gezeigt, dass die Konsumungleichheit niedriger ist und nicht so stark ansteigt wie die Einkommensungleichheit. Es macht also einen wichtigen Unterschied, welche Größe als Maß für Ungleichheit herangezogen wird. Das zeigt auch ein neuer Datensatz von Eurostat, dem Statistikamt der EU. Er trägt für die meisten europäischen Länder Verteilungsdaten bezüglich Einkommens, Konsums und Vermögens zusammen. Das Bild, das sich ergibt, bezeugt, dass die Bemühungen von Eurostat notwendig waren: Einkommen und Konsum ergeben auch in Europa sehr unterschiedliche Eindrücke von Ungleichheit.

Neue Daten – neue Rätsel

Die Grafik zeigt, dass das Verhältnis zwischen der Konsum- und der Einkommensverteilung sehr komplex ist. Beides wird durch den weitverbreiteten Gini-Index gemessen. Je höher der Index, desto ungleicher ist die Verteilung. Beide Maße hängen positiv miteinander zusammen. Mit steigender Einkommensungleichheit wird auch der Konsum ungleicher verteilt. Der Konsum ist jedoch tendenziell gleicher verteilt als das Einkommen. Nichtsdestoweniger gibt es eine erhebliche Streuung, die Fragen aufwirft. In manchen Ländern, wie zum Beispiel Österreich oder Finnland, sind beide Verteilungen sehr nah beieinander, während in anderen Ländern das Gegenteil beobachtet werden kann.

Aus verschiedenen Gründen müssen wir verstehen, was den Unterschied zwischen Einkommens- und Konsumverteilung in Europa bestimmt. Soll wirtschaftlicher Fortschritt und dessen Verteilung gemessen werden, müssen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger wissen, warum sich die zwei Indikatoren möglicherweise in unterschiedliche Richtungen entwickeln. Dies gilt nicht nur, wenn beide Maße zur politischen Steuerung herangezogen werden. Insbesondere sind die Unterschiede auch dann wichtig, wenn nur eines der beiden zur Verfügung steht.

Außerdem wird die Verteilung von Konsum oft als eine Art langfristige Ungleichheit beschrieben. Der Grund dafür ist, dass Haushalte zum Beispiel durch Ersparnisse in schlechten Zeiten Einkommensausfälle ausgleichen. In guten Zeiten hingegen können sie Geld beiseitelegen. So lässt sich Konsum und damit ein gewisser Lebensstandard erhalten, auch wenn vorübergehend kein Einkommen zur Verfügung steht. Dieses Verhalten wird Konsumglättung ("consumption smoothing") genannt. Gerade für die Zeit nach der Wirtschafts- und Finanzkrise ist es wichtig, die Bedeutung von verschiedenen Institutionen zu verstehen, die den Haushalten bei ihrer Konsumglättung helfen.

Puzzlesteine: Sozialstaat und Immobilien

Oft wird in der ökonomischen Literatur auf Kreditinstitutionen verwiesen, die den Unterschied zwischen Konsum- und Einkommensverteilung bestimmen. Je einfacher Haushalte sich Zugang zu Krediten verschaffen können, desto leichter können sie ihren Konsum aufrechterhalten, wenn das Einkommen zurückgeht. Konsum ist dadurch weniger volatil als Einkommen. Weil beide Verteilungen jeweils nur einen Schnappschuss von Ungleichheit zu einem bestimmten Zeitpunkt liefern, erhöht die Volatilität die Ungleichheit. Daher müsste in Ländern, in denen der Zugang zu Krediten einfach ist, der Konsum relativ zum Einkommen gleicher verteilt sein. Mit den Daten der Europäischen Union kann diese Beziehung auf Länderebene nicht bestätigt werden. Neben methodischen Schwierigkeiten könnte das zum einen damit zu tun haben, dass der Zugang zur Verschuldung für viele Haushalte während und nach der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise schwieriger geworden ist. Andererseits könnten auch noch andere Mittel zur Konsumglättung vorrangig sein. Worum könnte es sich dabei handeln?

Die EU-Daten eignen sich besonders gut, institutionelle Unterschiede zwischen verschiedenen Wohlfahrtsstaaten zu erforschen. Es lässt sich zeigen, dass sich diese sehr verschieden auf die Einkommens- und Konsumverteilung auswirken. Somit bestimmen sie maßgeblich mit, warum die Einkommens- und Konsumverteilungen nur in manchen Ländern stark voneinander abweichen. Geldtransfers wie zum Beispiel Pensionsprogramme spielen eine wichtige Rolle. Sind diese besonders großzügig, ist die Bevölkerung im Alter nicht so stark auf Ersparnisse angewiesen, sondern bezieht ein Transfereinkommen. Dadurch sinkt die Einkommensungleichheit verglichen mit Ländern, in denen die Alterssicherung weniger stark ausgebaut ist. Geht man davon aus, dass in den Ländern der zweiten Gruppe dementsprechend Ersparnisse eine wichtigere Rolle spielen, ist die Konsumverteilung in beiden Gruppen relativ ähnlich.

Auch Ersparnisse und Vermögenswerte spielen eine wesentliche Rolle und können erklären, warum sich die Konsumverteilung bei gleichbleibender Einkommensverteilung verändert.
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Eine andere wesentliche Komponente des Wohlfahrtsstaates sind Sachleistungen wie Bildung oder Gesundheitsversorgung. Wenn diese Sachleistungen weniger stark ausgebaut sind, wirkt sich das auf das Konsumverhalten der Menschen aus. Unfälle können zum Beispiel plötzlich hohe Ausgaben verursachen, wenn sie durch die öffentliche Versorgung nicht weitgehend gedeckt sind. Weil wiederum nur ein Ungleichheits-Schnappschuss zu einem bestimmten Zeitpunkt gemacht wird, ist die Konsumverteilung in Ländern mit weniger öffentlichem Engagement nicht so stark geglättet. Da sich keine unmittelbaren Konsequenzen für die Einkommensverteilung ergeben, vergrößern solche Programme den Unterschied zwischen der Einkommens- und der Konsumverteilung.

Auch Ersparnisse und Vermögenswerte spielen eine wesentliche Rolle und können erklären, warum sich die Konsumverteilung bei gleichbleibender Einkommensverteilung verändert. Über die Verteilung von Vermögen lässt sich aufgrund der geringen Anzahl an Beobachtungen nur wenig sagen. Es gibt aber Anzeichen dafür, dass die Polarisierung von Vermögen den Abstand zwischen der Konsum- und der Einkommensverteilung verringert. Intuitiv bedeutet das, dass weniger Haushalte Ersparnisse zum Abfedern von Einkommensausfällen haben, wenn die Vermögen stark konzentriert sind. Der Effekt von Vermögenspreisen hängt jedoch stark mit der Konsumverteilung zusammen. Insbesondere der Immobilienmarkt spielt eine entscheidende Rolle. Steigen die Häuserpreise, konsumieren Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer mehr. Da sich diese vor allem im mittleren und im wohlhabenderen Bereich der Verteilung befinden, führt das zu einem Anstieg der Konsumungleichheit, ohne dass sich die Einkommensverteilung ändert.

Multidimensional messen

Gemeinsam können diese unterschiedlichen Kanäle die etwas unstrukturiert anmutenden Unterschiede zwischen der Konsum- und der Einkommensverteilung erklären. Trotzdem bleiben manche Fragen offen, wie zum Beispiel jene nach der Rolle der Vermögensverteilung. Damit ist klar, dass ein größerer Datenfundus für präzisere Analysen zur Verfügung stehen muss, um evidenzbasierte Politik zu fördern. Ungeachtet dessen zeigt sich aber auch, dass die Messung des wirtschaftlichen Fortschritts tatsächlich am besten multidimensional gemacht wird. Schenkt man nur einer Dimension allein alle Aufmerksamkeit, bleiben wichtige Entwicklungen verborgen. Mit einer breiteren Perspektive können wir nicht nur die Auswirkungen makroökonomischer Vorgänge besser abschätzen, sondern auch die Bedeutung des Wohlfahrtsstaates besonders in Zeiten wirtschaftlicher Turbulenzen besser verstehen. (Severin Rapp, 26.11.2019)

Severin Rapp ist Projektmitarbeiter am Forschungsinstitut "Economics of Inequality" der WU Wien. Er absolvierte sein Bachelorstudium in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der WU mit dem Schwerpunkt Volkswirtschaftslehre und der Spezialisierung in den Bereichen Verteilung und Ungleichheit. Am Forschungsinstitut arbeitet er zu den Themen Lebenserhaltungskosten und sozialer Teilhabe. Dabei stehen die Verteilungswirkungen der vom sozioökonomischen Hintergrund abhängigen individuellen Inflationsraten für österreichische Haushalte im Vordergrund.