"Ist doch egal, was du jetzt in deinem Leben machst! Träumerin und Utopistin bist und warst du ja eh schon immer", munterte sie ihr alter Schulfreund Stefan auf.

Wie jedes Jahr trafen sich Lena und Stefan gemeinsam mit Kim in einem Café mitten im Zentrum der altehrwürdigen Stadt, in der sie alle drei aufgewachsen waren. Da die Frau ohne Eigenschaften nicht mehr dort lebte, sondern es vorzog "Provinztusse" zu sein – zumindest nannte sie Stefan gelegentlich so – bot sich nicht oft die Gelegenheit, einander zu sehen.

Stefan und Lena drückten acht Jahre lang zusammen die Schulbank. Kim war mit ihnen in der gleichen Pfadfindergruppe. Stefan musste einige Jahre warten, bis Kim ihn erhörte, die ihm lange keines Blickes würdigte. Es war also eine Zeit des Abwartens und Leidens, in der zwischen Lena und Stefan eine innige Freundschaft entstand. Als sie fünfzehn Jahre alt waren und bestimmte Getränke interessanter wurden, kamen sich Kim und Stefan endlich näher und waren seitdem unzertrennlich.

Fassungslose Brandung

Manchmal war Lena fassungslos, dass Kim und Stefan seit über zehn Jahren ein Paar bildeten. Dann war sie wieder unendlich dankbar dafür, denn ihre Freunde führten eine Beziehung, die in ihr Stabilität bewirkte. Wie ein Fels in der Brandung oder ein ein Hafen der Zuversicht, der nicht überflutet werden konnte und selbst wenn, würde er es aushalten. Überschwemmungen sind ja heute keine Seltenheit mehr.

Das Café, das sie aufsuchten, öffnete seine Pforten vor etwa acht Jahren. Damals setzte man sich auf Kisten, Kaffeesäcke, Koffer und auf alles andere Erdenkliche, das eigentlich nicht zum Sitzen diente. Die hauseigene Kaffeeröstmaschine stand im Seitenflügel des Lokals. Mittlerweile konnten sich die Inhaber des Cafés Sessel und Tische leisten. Es hatte nicht mehr ganz den verbrauchten Charme von damals. Kim, Lena und Stefan saßen all die Jahre zwischen jungen, frisch inskribierten, nicht älter werdenden Gesichtern.

Vogelfrei im Kaffeehaus.
Foto: Ruth Höpler

Studium – eine marxistische Utopie?

Sie schwelgten in Erinnerungen an die Studienjahre: Damals schien schier alles möglich zu sein. Das ganze Leben stand bevor. Die Eliten waren zu verabscheuen. Das Eigenheim wurde abgelehnt. Niemand interessierte es, chic essen zu gehen. Sündhaft teure Porzellanvasen wurden verteufelt. Nutzpflanzen wurden in finsteren Innenhöfen gezogen. Dass die Heizung manchmal ausfiel, war nicht weiter schlimm. Marx und Engels Theorien wären schließlich auch nie entstanden, hätten die beiden nicht jahrelang gefroren. Man strebte nicht nach Anerkennung. Man konkurrierte nicht mit seinen Kolleginnen und Kollegen. Wenn man sich Bücher leistete, dann nur jene von Gramsci, Adorno, Bloch oder vielleicht Lukács – und dann auch nur auf Flohmärkten. Alle Menschen waren frei und gleich. Man überlegte, wie man Wohnungslose in die WG aufnehmen könnte, obwohl auf der Couch schon seit Monaten der Cousin vom Mitbewohner schlief.

Es ging darum, die Welt zu retten, gemeinsam an einem Strang zu ziehen, die eigenen Träume zu leben, den Großkonzernen und der Politik einen Denkzettel zu verpassen, indem man beispielsweise in Container hüpfte und die Gemeinschaft mit abgelaufener Kantwurst, feucht gewordenem Plunder und runzeliger Paprika versorgte. Ob schön, schlank oder dick, alles war willkommen. Ob in Partnerschaft lebend oder Single. Schwul sein war cool. Überhaupt anders sein war ideal. 

Nach dem Studienabschluss musste sich Lena etwas überlegen, wie sie fortan leben, wie sie sich finanzieren wollte. Das Leben als Studierende war am Ende nicht mehr ganz so charmant wie noch zu Beginn. Irgendwie hatte sie dann plötzlich Lust, erwachsen zu werden, eine eigene Wohnung zu haben und bequem zu werden. (Katharina Ingrid Godler, 28.11.2019)

Fingerzeig

  • Diese Folge ist in Anlehnung an das 14. Kapitel in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften entstanden, in dem die Hauptfigur Ulrich seine Jugendfreunde Walter und Clarisse besucht.
  • Auch dieses Mal wurde das Foto von Ruth Höpler (Fotografin und Raumplanerin) aufgenommen. 
  • Frage an das Forum: Welche marxistischen Theorien wurden von Frauen geschrieben? 

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