Der Physiker Hans Joachim Schellnhuber zählt zu den renommiertesten Klimaforschern weltweit.

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"Wir tun an zwei Fronten das Falsche", sagt Hans Joachim Schellnhuber: Die Emissionen von Treibhausgasen steigen, gleichzeitig werden Ökosysteme wie der Amazonas zerstört, die die Auswirkungen unseres Verhaltens lindern könnten.

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Die Allianz, die sich in den vergangenen Monaten zwischen Wissenschaft, Kirche und Jugend gebildet hat, hatte davor "niemand auf dem Schirm", sagt Schellnhuber. Trotz der düsteren Entwicklungen gibt ihm dieses Dreieck aber "ziemlich viel Hoffnung". Im Bild: Eine Klimademonstration am 15. November in Berlin.

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Zwei-Grad-Ziel, Klimawandel und Kippeffekte – diese Begriffe stehen heute im Zentrum hitziger Debatten. Eingeführt wurden sie maßgeblich vom deutschen Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber. Er hat nicht nur wesentlich zu unserem Wissen über den Planeten beigetragen, sondern auch die Art und Weise geprägt, wie wir über das Klima denken und verhandeln.

STANDARD: Unsere Leser fordern uns zunehmend auf, statt Klimawandel die Begriffe Klimakrise oder Klimakatastrophe zu verwenden. Ist der Ausdruck Klimawandel noch brauchbar?

Schellnhuber: Klimawechsel oder Klimaveränderung – diese Begriffe haben mir nicht gefallen. Klimawandel hatte immer die Konnotation menschengemacht und war daher ein vernünftiger Begriff. Klimawandel ist relativ neutral, Klimakrise ist bedrohlich, Klimakatastrophe fatal. Wir stehen natürlich inzwischen mitten in der Klimakrise, das ist gar keine Frage. Ich selbst verwende diesen Begriff auch. Wir sind noch nicht in der Klimakatastrophe, aber marschieren stur darauf zu. Trotzdem ist es noch möglich, sie zu verhindern.

STANDARD:Sie waren einer der Ersten, die sich dafür ausgesprochen haben, die Erderwärmung auf zwei Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter zu beschränken. Wie ist es dazu gekommen?

Schellnhuber: 1993 habe ich mit Kollegen in Berlin darüber diskutiert, dass der damalige Ansatz der Klimaforschung unsinnig war: Wir rechneten aus, wie die Wirtschaftsentwicklung sein wird, wie viele Emissionen sich daraus ergeben und welche Klimafolgen. Ich habe dann versucht, einen sogenannten inversen Ansatz zu nehmen und zu fragen: Was ist es, was wir vermeiden wollen? Was sind die Emissionen, die noch verträglich sind? In der Quantentheorie arbeitet man auch mit solchen Inversansätzen. Für meine Kollegen war das natürlich etwas völlig Exotisches. Ich hatte früh die Intuition, dass bei zwei Grad etwas Systemisches geschehen wird. Der Homo sapiens existiert seit etwa 200.000 Jahren. In dieser Zeit gab es Temperaturfluktuationen von zwei Grad plus und vier Grad minus. Die Begründung war daher: Lasst uns nicht aus diesem klimatischen Fenster heraustreten.

STANDARD: Warum rückte das 1,5-Grad-Ziel stärker in den Fokus?

Schellnhuber: Zwischen 1,5 bis zwei Grad begeben wir uns schon in eine gefährliche Zone. Jenseits der zwei Grad könnte ein selbstverstärkender Treibhauseffekt einsetzen. Ich habe darüber 2018 mit Kollegen eine Arbeit geschrieben; es war in dem Jahr der meistzitierte Artikel in der Klimaforschung. Darin haben wir die Hypothese einer „Heißzeitdynamik“ eingeführt: Ab einer Erwärmung von zwei Grad könnten durch einen selbstverstärkenden Treibhauseffekt unter anderem die natürlichen Ökosysteme kollabieren.

STANDARD: Denken Sie, es wird uns gelingen, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu beschränken?

Schellnhuber: Ich glaube nicht. Beim Klimagipfel in Paris war ich geschockt: Wir Wissenschafter wären zufrieden gewesen, wenn man die Zwei-Grad-Begrenzung der Erderwärmung zum Völkerrecht gemacht und effektive Maßnahmen zur Beachtung dieser Leitplanke beschlossen hätte. Was aber hat die Politik getan? Sie hat gleich noch eine Schippe draufgelegt, nämlich ein noch ehrgeizigeres Ziel vereinbart, aber dafür die Maßnahmen weggelassen! Das können nur Diplomaten – das ist völlig schizophren. Sie haben sich dabei ganz toll gefühlt, und wir Wissenschafter standen mit hängenden Schultern daneben und haben gesagt: „Ja, wir lieben das 1,5-Grad-Ziel, aber bitte sagt uns, wie ihr das erreichen wollt.“

STANDARD: Sie haben den Begriff der Kipppunkte in die Klimadebatte eingebracht – worum geht es dabei?

Schellnhuber: Im Jahr 2000 ist das populäre Buch "The Tipping Point" von Malcolm Gladwell erschienen. Darin ging es gewissermaßen um neuralgische Punkte, etwa in Unternehmen. Wenn man genau an dieser Stelle eine Veränderung vornimmt, wird dadurch das gesamte System beeinflusst. Mir ist aufgefallen, dass der Begriff Tipping Point auch in der Klimaforschung nützlich wäre. Denn die Veränderungen, die durch den Klimawandel passieren, sind hochgradig nichtlinear. Selbst wenn die Temperatur stetig ansteigt, kann es zu drastischen bzw. unkontrollierbaren Veränderungen kommen. Das ist so, wie wenn sich die Körpertemperatur eines Menschen erhöht: Da ist ein Grad schon unangenehm, zwei Grad sind Fieber, und mehr als fünf Grad bedeuten den Tod. Mit dem Begriff Kipppunkt wollte ich zum Ausdruck bringen – dabei ist meine Forschung zu komplexen Systemen sehr wichtig gewesen –, dass viele Klimaveränderungen abrupt oder irreversibel sein werden.

STANDARD: Welche Kipppunkte sollten wir aktuell im Blick behalten?

Schellnhuber: Die großen Eisschilde sind klassische Kippelemente. Denn wenn Grönland beginnt abzuschmelzen, setzen selbstverstärkende Prozesse den Kollaps fort. Die Oberfläche sackt in wärmere Gefilde ab. Gleichzeitig wird sie rauer und schmutziger, dadurch wird noch mehr Licht absorbiert, was ebenfalls zur Erwärmung beiträgt.

STANDARD: Eine weitere Facette der menschlichen Eingriffe in das Erdsystem ist das Massenaussterben. Laut Prognosen drohen hunderttausende Arten ausgerottet zu werden. Was sind die Folgen?

Schellnhuber: Zunächst ist es meiner Ansicht nach einfach unethisch, die Schöpfung zu zerstören. Dass wir das Buch des Lebens verbrennen, bevor wir es gelesen haben, ist schlichtweg ein Verbrechen. Abgesehen davon konnten wir in Studien zeigen, dass Ökosysteme mit größerer Biodiversität klimatische Schocks viel besser verdauen können. Und schon heute stünden wir bei einer globalen Erwärmung von fast zwei Grad, wenn wir nicht unsere natürlichen Freunde hätten – die Natursysteme, die enorme Mengen an CO2 aufsaugen, wie Ozeane oder Wälder. Insofern kann unser Interesse nur sein, diese Freunde zu stärken. Aber was tun wir stattdessen? Wir bringen sie um, etwa durch Brandrodung. Das ist kompletter Wahnsinn! Nur eine funktionierende Biosphäre gibt uns überhaupt noch die Chance, durch eine schnelle Dekarbonisierung den Klimawandel einzufangen. Es ist oft übersehen worden, dass wir an zwei Fronten das Falsche tun: Wir setzen die fossile Wirtschaft fort und zerstören genau die natürlichen Ressourcen, die einen Teil unserer Sünden absorbieren. Eine doppelte Torheit!

STANDARD: In der Klimaforschung befinden wir uns in der paradoxen Situation, dass wir viel Wissen über den Zustand des Planeten besitzen, aber dennoch die entsprechenden Handlungen ausbleiben. Warum?

Schellnhuber: Das liegt daran, dass es in der Gesellschaft noch relativ einfach ist, ein überschaubares Einzelproblem zu lösen. Man würde eigentlich meinen, die größte politische Energie wird für die größten Probleme aufgewendet. Aber es ist genau umgekehrt: Je kleiner ein Problem ist, umso mehr Aufmerksamkeit erfährt es. Politiker gieren geradezu nach solch handhabbaren Aufgaben, bei denen sie Beifall ernten können. In dem Moment, in dem sie merken, es ist ein großes Brett zu bohren, mit großen Lobbywiderständen, ziehen sie schnell die Hand weg. Es gibt aber keine wirkmächtige Politik, wo nicht auch Verlierer existieren, wie etwa Ölkonzerne oder Kohleproduzenten.

STANDARD: Was kann denn in dieser Situation der Einzelne überhaupt für einen Beitrag leisten?

Schellnhuber: Diese Frage hätte ich früher für unpolitisch gehalten, inzwischen scheint sie mir eine der wichtigsten von allen zu sein. Die Hoffnung liegt jetzt wirklich auf der Zivilgesellschaft. Jeder Einzelne kann viel tun: Man kann von heute auf morgen beschließen, weniger zu fliegen und stattdessen umweltfreundliche Reiseformen zu nutzen. Oder man kann die Ernährung umstellen, sich ein Elektroauto zulegen oder ein Fahrrad. Man muss ja nicht gleich ein Klimaheiliger mit Beglaubigung durch Greta Thunberg werden – mit solchen Maximalforderungen werden oft gute Ansätze zerstört. Wenn ich von acht Tonnen CO2 im Jahr auf sechs herunterkomme, habe ich schon etwas getan. Man kann sich auch mit anderen zusammentun, einen Ortsverband gründen oder sich der Fridays- for-Future-Bewegung anschließen. Politiker wie Angela Merkel wissen um das Problem, aber sie sind gefangen in einem Käfig von Partikularinteressen. Sie brauchen daher die Unterstützung der Zivilgesellschaft. Es muss ein Zeitgeist da sein, auf dem sie surfen können. Zur entsprechenden Welle können wir alle beitragen. In einer Demokratie braucht die Politik die Zivilgesellschaft mehr als umgekehrt.

STANDARD: Sie haben sich wiederholt in den politischen Klimadiskurs eingebracht. Im herkömmlichen Verständnis von Wissenschaft hat sich der Wissenschafter auf eine unbeteiligte Beobachterposition zurückzuziehen. Warum halten Sie es für notwendig, die bloße Beobachterposition zu verlassen?

Schellnhuber: Ich halte das Dogma der wissenschaftlichen Objektivität für fragwürdig. Aus der Quantentheorie wissen wir, dass man Beobachter und Objekt grundsätzlich nicht trennen kann. Denn Quantenzustände kollabieren, wenn sie observiert werden. Die Wissenschaft ist ein System von Methoden, Hypothesen, Experimenten, gegenseitiger Begutachtung – ein System, mit dem man sich der Wahrheit annähert. Die Methoden, mit denen ich in der Klimaforschung zu Erkenntnissen komme, müssen den besten Standards genügen und sind in diesem Sinne objektiv. Ich muss so skeptisch wie möglich gegenüber meinem eigenen Befund sein. Aber es gibt kein Subjektivitätsverbot bei der Interpretation, die sich aus einem Befund ergibt.

STANDARD: Warum sind viele Wissenschafter dennoch zurückhaltend mit subjektiven Interpretationen ihrer Ergebnisse?

Schellnhuber: Das ist meiner Ansicht nach oft eher schon die Feigheit der Wissenschafter. Stellen Sie sich einen Virologen vor, der irgendwo ein Supervirus findet – hochansteckend, tödlich, ohne Behandlungsmöglichkeit. Würde er das nur in einem Fachblatt wie "Lancet" veröffentlichen und sonst Stillschweigen bewahren, würde nur eine kleine Gruppe von Spezialisten davon erfahren. Hätte er jedoch nicht die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sofort an die Öffentlichkeit zu treten und zu sagen „Hier ist etwas, das von größter Gefahr für die Menschheit ist“? Das schmälert ja überhaupt nicht die Kunst und Fertigkeit und Sorgfalt, mit der er das wissenschaftliche Ergebnis erzielt hat. Es gibt immer zwei Phasen: Das erste ist die Methodik, mit der ich ein Ergebnis erziele – die muss natürlich so reproduzierbar wie möglich sein. Aber wer verbietet uns Wissenschaftern eigentlich, den nächsten Schritt zu gehen und unsere Ergebnisse in die Gesellschaft zu transportieren, die uns schließlich opulente Möglichkeiten gibt, neugiergetrieben Forschung zu treiben?

STANDARD: Die Lage des Planeten sieht düster aus, dennoch gibt es Entwicklungen, die Sie hoffnungsvoll stimmen – welche sind das?

Schellnhuber: Es hat sich in den vergangenen Monaten eine Art Kraftdreieck herausgebildet: Wir Wissenschafter haben seit langem vor den Gefahren gewarnt. Letztlich wurden wir aber immer als weltfremde Eigenbrötler abgetan. Jetzt ist das völlig Unvorstellbare geschehen. Die konservativste Institution der Welt, die katholische Kirche, und die zwölf- bis 14-jährigen Kids, die normalerweise die Lautstärke ihrer Musikanlagen erhöhen, wenn sie etwas Unangenehmes hören, sagen nun: „Die Wissenschaft ist unser Maßstab.“ Es ist eine fast magische Allianz entstanden zwischen Forschung, Glaube und Jugend. Das hört sich pathetisch an, aber es ist tatsächlich so. Niemand hatte diese Konstellation auf dem Schirm. Das ist für die etablierten Lobbyisten ein unglaubliches Ärgernis. Sie können versuchen, Papst Franziskus zu marginalisieren und die Wissenschaft sowieso. Aber wenn die eigene Tochter beim Frühstück am Sonntag fragt: „Papa, hast du diese Woche wieder dazu beigetragen, die Welt zu zerstören?“, dann wird es unangenehm. Das neue Dreieck gibt mir Hoffnung – ziemlich viel sogar. (Tanja Traxler, 29.11.2019)