Vielleicht kennen Sie den Kunstgriff der Mauerschau in der "Ilias", ein wunderbares Stilmittel, um Personen katalogartig aufzuführen, zu beschreiben und somit auch ihre Position in der Handlung zu kommunizieren. Nun lässt sich der Begriff der "Mauerschau" auch sehr gut zweckentfremdet benutzen und auf einen komplexen, aus verschiedenen Disziplinen zusammengesetzten Forschungszweig anwenden – allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Spähen die trojanischen Frauen von der Mauer herab und beschauen die verhängnisvolle Heldentruppe zu ihren Füßen, so könnte man sagen, manche Wissenschafter haben eine Tendenz, Mauern anzustarren – recht konzentriert sogar. Wir erlauben uns vorzustellen: Bauforscher, ihre Arbeit und vor allem Arbeitsweise. Wir wollen hier nämlich dem Bauforscher nicht nur über die Schulter "auf die Mauer", sondern auch "in die Karten" schauen, und Sie nicht einfach nur mit einem Ergebnis beglücken, sondern die Grundlagen ins Licht des Bauscheinwerfers rücken.

Wie geht man einem Bauwerk unter die Haut?

Was spielt sich bei einer bauhistorischen Untersuchung also ab? Der erste Schritt ist die grundlegende Vermessung des Gebäudes, und oft wirft bereits diese eine Menge Fragen auf, mit denen man sich in Folge durch die Untersuchung von Mauern, Verputz und Gewölbeformen auseinandersetzt. Ganz ähnlich wie bei einer archäologischen Ausgrabung, geht es auch hier um Schichten und ihre – vorerst einmal relativ chronologische – Abfolge, nur eben nicht im Boden, sondern am stehenden Baukörper. Und wie im Boden auch, geht das nicht ohne Freilegen. Statt der Schnitte im Erdreich werden Schnitte und Öffnungen im Verputz vorgenommen, die vom vermauerten Fenster bis zur Struktur des bloßen Mauerwerks verschiedenste Anhaltspunkte aufdecken können. Ausgesprochen vorteilhaft ist in diesem Zusammenhang, dass sich in Österreich wie auch im süddeutschen Raum eben jene Struktur des Mauerwerks mit den Jahrhunderten tatsächlich verändert hat – in anderen Teilen Europas fällt dieses Hilfsmittel aus regional unterschiedlichen Gründen aus. Diese Veränderungen lassen sich unter Zuhilfenahme historischer, kunsthistorischer und naturwissenschaftlicher Zugänge in eine recht präzise chronologische Reihenfolge stellen.

Hierorts gibt es zwar wenige Beispiele, die sich vor das 12. Jh. datieren lassen, ab diesem Zeitraum aber liegt Vergleichsmaterial vor und zeigt eine Vorliebe für das Spielen mit adretten Bausteinen – soll heißen: Die aus Quadersteinen errichtete Mauer erfreut sich großer Beliebtheit. Grob gesprochen ändert sich um 1200 das Bild, und das Muster wandelt sich zur Bruchsteinmauer hin – zumindest im profanen Bereich. Bei Kirchen finden sich die Quader immer noch als äußere, edlere Schale über einem kleinteiligen Kern – Prestige ist bekanntlich die halbe Miete.

Der Bergfried der Ruine Rauheneck bei Baden.
Foto: Doris Schön

Veränderungen ab dem 13. Jahrhundert

Schon etwas vor 1200, deutlicher dann danach, setzt sich ein Mauertyp durch, den man opus spicatum, Ährenmauerwerk oder auch Fischgrätmauerwerk nennt – je nachdem, ob sie die vegetarische Sichtweise bevorzugen oder nicht. Repetitio delectat – zumindest manchmal sind Wiederholungen, wenn schon nicht vergnüglich, so nicht zu vermeiden. Auch die Römer bedienten sich schon dieser Technik. Das ist weiter nicht überraschend, handelt es sich dabei doch um nichts anderes als eine bequeme Technik, flache und für ordentliche Lagen ungeeignete Bruchsteine wirksam eben, doch lagig zu versetzen.

Ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nimmt man es damit dann auch nicht mehr so genau, nach und nach fasst man Lagen zu Schichtpaketen – Kompartimenten – zusammen. Mit der Zwischenstufe des Zwickelmauerwerks bildet sich dann im 15. Jahrhundert sogenanntes Netzmauerwerk aus, und es finden sich neben kleinen Steinen mehr und mehr Ziegel, die größere Steine "netzartig" einfassen.

Ein Beispiel für Kompartimentmauerwerk: Mittelalterliches Mauerwerk war meist Schalenmauerwerk. Das bedeutet, dass zunächst die äußeren Steine (die Mauerschale) versetzt wurden, zwischen denen dann kleinteiliges Steinmaterial und viel Mörtel (die Mauerspeise) gegossen wurde. Die horizontalen Fugen (Ausgleichslagen) zeigen die einzelnen Kompartimente (Arbeitshöhen) an, also jenen Bereich, der in einem Zug errichtet wurde und dann austrocknen durfte, ehe das nächste Kompartiment darüber errichtet wurde.
Foto: Doris Schön

Nicht nur zeitliche Unterschiede müssen bei der "Mauerschau" bedacht werden, sondern auch unterschiedliche Bereiche in einer Mauer selber. So ist das Fundament – wen wundert's – oft weniger "optisch ansprechend" gestaltet als das aufgehende Mauerwerk. Und genau hier, wenn es nämlich um optische Anforderungen auf der einen und Einsparungen auf der anderen Seite geht, ist bei aller Begeisterung auch immer etwas Vorsicht geboten, auch bei sehr unterschiedlich aussehendem Mauerwerk an einem Bauwerk oder: Einfach ist anders.

Ein Beispiel für Netzmauerwerk: Größere Steine wurden mit kleineren Steinen oder später Ziegeln umgeben, also ausgenetzt, wodurch es möglich war, auch kleinere Steinteile effizient zu verwenden.
Foto: Doris Schön

Selbst dem Laien offenbart sich hier rasch die scharfe Grenze – Fuge – zwischen Bruchsteinmauerwerk, stellenweise schräg in der erwähnten Opus-spicatum-Technik versetzt, und sehr sorgfältig gesetztem Quadermauerwerk. Zwei Bauphasen? Unterschiedliche Datierungen? Gar verschiedene Bauherren? Mitnichten, alles stammt aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und vermutlich auch aus einer Hand. Hier haben wir es lediglich mit einem akuten Fall von Sparsamkeit zu tun: Die unattraktiveren, weniger gut bearbeiteten Steine waren ursprünglich nicht sichtbar, lagen sie doch im Innenraum eines ehemals angebauten weiteren Gebäudes, verputzt und weitestgehend unauffällig. Die hochwertigen Quader hingegen transportierten an der Außenseite, bestenfalls durch dünne Kalktünche neckisch überzogen, Grandezza auf den ersten Blick.

Angebereien auf hohem Niveau

Tatsächlich lässt sich mit diesem immer noch rein relativ chronologischen Zugang schon eine recht gute Einordnung verschiedener Phasen eines Bauteils in 50- bis 100-Jahre-Schritten vornehmen. Will man es genauer, muss man verschiedene wissenschaftliche Zugangsweisen kombinieren. Kunsthistorische Stilanalyse beschäftigt sich mit den offensichtlich ästhetisch ansprechenderen Elementen des Baus, vom Gewölbe über die Stuckausstattung bis zu Malereien und sogar Türbeschlägen. Neben einer validen Datierungshilfe findet sich auf dieser Ebene auch einiges an sozialem und politischem Code versteckt. Seit den 1990-Jahren steht mit der Dendrochronologie auch noch eine naturwissenschaftliche Herangehensweise zur Verfügung. Dabei werden kleine Bohrkerne aus Bauhölzern – Dach-, Decken- oder Gerüstbalken – mit standardisierten Jahrringkurven verglichen. Auf diese Weise lässt sich das Fälldatum des verbauten Baumes eruieren. Damit verfügt man über ein ganz außerordentliches Hilfsmittel, um wiederum die bereits ausgearbeiteten Mauerwerkstypen zeitlich genau einzuordnen und auch die Datierung des einen oder anderen kunsthistorischen Details einer Überprüfung aus anderer Richtung zu unterziehen.

Die Auswertung der schriftlichen und bildlichen Quellen zur Hausgeschichte liefert oft ebenfalls ganz erstaunlich genaue Angaben zum Bau und der Abfolge der Veränderungen, es ist allerdings auch Vorsicht geboten: So mancher Bauherr, der sich mit der grundsätzlichen Errichtung "ex fundamentis" eines Bauwerks brüstete, übernahm tatsächlich nur eine weit fortgeschrittene Baustelle. Solche bauliche "Fremdfedertaktik" findet sich bis hoch hinauf. So hat König Ottokar Přemysl entgegen den von ihm in Auftrag gegebenen Aufzeichnungen den ältesten Teil der Hofburg in Wien auch nur fertiggestellt und nicht "erbaut" – Letzteres klingt natürlich bedeutend königlicher.

Von der Bedeutung "mehrdimensionaler Biografien"

Zu Beginn haben wir die Bauanalyse bezüglich ihrer "einschneidenden" Wirkung mit einer archäologischen Ausgrabung verglichen. Natürlich gibt es da neben einigen Ähnlichkeiten in der Vorgehensweise noch eine weitere wesentliche Gemeinsamkeit, bevor man wieder getrennter Wege geht: den Auslöser. Ob nun Bodenarchäologie oder Bauforschung – man arbeitet so gut wie nie aus einem rein forscherischen Drang heraus. Ohne konkreten und für das Bauwerk gelegentlich auch bedrohlichen Anlassfall kommt es nicht zum Auftrag für eine Untersuchung. Im Gegensatz zu Baumaßnahmen begleitenden bodenarchäologischen Projekten, die fast immer auch mit der endgültigen "Auflösung" einer Befundabfolge einhergehen, gibt es bei der historischen Bauforschung naturgemäß mehr "überlebende" Befunde und Objekte: Bauwerke, deren Biografie sich dank der Beforschung nicht nur um einige Kapitel verlängern (oder überhaupt erst einmal schreiben) ließ und die durch die aufgedeckten Facetten ihrer Entwicklungsgeschichte förmlich an Tiefe und durchaus auch an atmosphärischer Intensität gewonnen haben. Nichtsdestotrotz gibt es auch Fälle, wo es zum "Äußersten" – also zur Zerstörung des Gebäudes – kommt. Dann ist die Dokumentation des Bauforschers alles an "memento", was von einem Gebäude(teil) oder einer Mauer bleibt, die dann tatsächlich niemand mehr schauen wird. (Doris Schön, Ingeborg Gaisbauer, 28.11.2019)