Frage:

Lieber Familienrat, es ist für mich ganz seltsam, hier zu schreiben, aber irgendwie habe ich das Gefühl, ich brauche eine Expertenmeinung. Wie soll ich sagen? Mein Mann und ich sind keine Nudisten, aber wir haben keine große Scham beim Nacktsein. Zu Hause laufen wir öfters ganz nackt herum. Vor allem im Sommer, wenn es heiß ist. Da sind wir hinten im Garten immer nackt. Unseren Kindern haben wir von Anfang an nur Gewand angezogen, wenn es nötig war – also wenn es kalt war oder um sie vor der Sonne zu schützen. Wir haben zwei Söhne, der eine ist jetzt zehn geworden, der kleinere gerade fünf. Wir haben uns ehrlich gesagt nie etwas dabei gedacht, und für die Kinder ist es auch ganz normal. Neulich habe ich dann im Kreis unter Freundinnen, die auch Kinder haben, mitbekommen, dass die es total seltsam finden, wenn Eltern sich vor ihren Kindern nackt zeigen. Ich wusste erst gar nicht, was ich sagen soll. Danach ging eine Diskussion los, dass Kinder auch lernen sollten, dass ein nackter Erwachsener nicht normal ist, um sich vor Übergriffen zu schützen. Dass wir als Familie auch mal zu viert in der Badewanne sitzen, habe ich ihnen gleich gar nicht erzählt ...

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Eltern, die gemeinsam mit ihren Kindern in der Badewanne sitzen. Eigentlich ganz normal – oder?
Foto: Getty Images/wundervisuals

Ich fühle mich seither ganz schlecht und bin etwas verunsichert. Wir sind ja nicht fremd zueinander. Oder täusche ich mich und unterschätze hier etwas? Mein Vater und meine Mutter ziehen sich noch heute (sie sind über 60) vor mir um, das wird nicht einmal hinterfragt. Ich bitte um einen professionellen Rat!

Antwort von Linda Syllaba

Ihren Zeilen entnehme ich, dass aus den Meinungen Ihrer Freundinnen eine Sorge spricht, die in Richtung Sexualisierung geht. Was ich ebenfalls herauslese, ist, dass Sie innerhalb Ihrer Familie keinen Funken dieses Aspektes darin sehen, und so ist es meiner Meinung nach vollkommen in Ordnung, das auch weiterhin so zu halten.

"Kinder sollten lernen, dass ein nackter Erwachsener nicht normal ist, um vor Übergriffen zu schützen": Dies ist ja ganz maßgeblich eine Frage des Kontextes! Ein nackter Erwachsener in der U-Bahn-Station ist definitiv ungewöhnlich, daheim im Bad oder auch im Garten beim Sonnenbad ist er das nicht – schon gar nicht innerhalb der eigenen Kernfamilie. Zumindest nicht für Sie. Weiters ist ein sexueller Übergriff noch nicht passiert, nur weil ein nackter Mensch anwesend ist.

Wir alle werden nackt geboren. Der Mensch hat begonnen, Kleidung zu tragen, um sich vor Witterungseinflüssen und Verletzungen zu schützen. In weiterer Folge kamen modische Vorstellungen hinzu, die sowohl Status-, Ästhetik- als auch Moralaspekte bedienten. In recht prüden Gegenden der Welt gilt es immer noch als unschicklich oder gar strafbar, sich öffentlich nackt zu zeigen. In anderen Ländern ist es nicht ungewöhnlich, zum Beispiel "oben ohne" baden zu gehen oder eben nackt. Vom Internet will ich erst gar nicht anfangen ...

Jedenfalls unterliegt die Sichtweise von Nacktheit stark den Einflüssen individueller und gesellschaftlich relevanter Werte, die sich wiederum stark aus Kultur, Religion, Familienusancen und so weiter speisen. Kleine Kinder denken über ihre Nacktheit nicht nach, bis sie irgendwann erkennen, dass Erwachsene es anders handhaben. Schamgefühl entsteht erst dort, wo ich etwas von mir, meiner Persönlichkeit oder meinem Körper nicht zeigen will, weil es einer Wertung unterzogen wird, die an der "Norm" gemessen wird. ("Normal" bedeutet ja erst einmal nur, dass es dem entspricht, was ich kenne, und auch oft dem, was die Mehrheit der Menschen in meinem Umfeld tut. Es bedeutet nicht, dass etwas gut, richtig, gesund oder gescheit ist.) Der Gegenpol von Schamgefühl ist Stolz. Ein gesundes Selbstwertgefühl ermöglicht es, irgendwo zwischen Scham und Stolz die Balance zu finden, auch was den eigenen Körper angeht. Je natürlicher mit realen körperlichen Gegebenheiten umgegangen wird, umso gesünder wird sich auch der eigene Zugang dazu entwickeln. (Das heißt, man braucht zum Beispiel selbst keinen Barbie-Maßen oder Superman-Figuren nachzueifern.)

Da Sie sich im Alltag außerhalb des Hauses ja alle bekleidet zeigen, wage ich zu behaupten, dass auch Ihre Söhne klar zu unterscheiden lernen, was punkto Nacktheit wo angemessen ist. Mit einem gesunden Gefühl für die eigenen Grenzen sollte es auch keine Unklarheiten darüber geben, was fremde Übergriffe angeht, egal ob verbal, emotional oder körperlich – Ihre Söhne sollen sich zu wehren wissen. Um ihnen das beizubringen, brauchen Sie jedoch zu Hause nicht auf Ihre gelegentliche Nacktheit zu verzichten. Ein starkes Selbstwertgefühl ist beim Abgrenzen hilfreich. Und natürlich, dass die Grenzen der Kinder allzeit gewahrt werden. (Linda Syllaba, 28.11.2019)

Linda Syllaba ist diplomierte psychologische Beraterin, Familiencoach nach Jesper Juul und Mutter. Aktuelles Buch: "Die Schimpf-Diät" (2019).
Foto: Bianca Kübler Photography

Antwort von Hans-Otto Thomashoff

Bei dieser Frage geht es weniger um Nacktsein oder Nichtnacktsein als um Normalität. Ist es normal, wenn bei Ihnen zu Hause alle nackt herumlaufen? Zum Glück leben wir in einer Gesellschaft, die dem Individuum recht viele Freiheiten zubilligt, besonders in den eigenen vier Wänden – den Garten eingeschlossen. Das heißt, wenn es bei Ihnen normal ist, sich nicht permanent zu verhüllen, dann ist das eben normal. Kinder lernen, was Eltern ihnen vorleben, und Sie haben ja bei Ihren eigenen Eltern die Erfahrung machen können, dass die Nacktheit niemandem geschadet hat.

Schwierig wird es immer nur für den, der aus der Reihe tanzt, nackt im Stadtpark flaniert oder über den Stephansplatz flitzt. Weil Normen kulturabhängig sind, hat Nacktsein im Orient andere Konsequenzen als im Amazonasdschungel. Fahren Sie einmal im Sommer nach Kroatien. Da glänzt die nackte Haut in der Sonne auf den Felsen an der Adria. Selbst im Salzkammergut taucht so mancher im Sommer im Adamskostüm in die klaren Seen. Hier ist Nacktheit kein Tabubruch und damit ganz normal.

Wenn Ihre Söhne lernen, dass bei Ihnen zu Hause Nacktsein normal ist, dann entspricht das den Regeln Ihrer häuslichen Kultur und ist sicher kein Schaden für Ihre Kinder. Sollte einer Ihrer Söhne das irgendwann im Laufe seiner Entwicklung nicht mehr wollen, dann sollten Sie das respektieren – wahrscheinlich ist es nicht. Die Sorge vor einer erhöhten Missbrauchsgefahr durch häusliche Nacktheit ist unbegründet. Ihre Kinder würden merken, wenn sich ihnen jemand unsittlich annähert, mit oder ohne Kleidung, Sie werden sie sicher aufgeklärt und davor gewarnt haben. Häusliche Verhüllung ist kein Schutz vor Missbrauch. Schließlich läuft auch in der katholischen Kirche niemand nackt herum, und doch gibt es dort Missbrauch. (Hans-Otto Thomashoff, 29.11.2019)

Hans-Otto Thomashoff ist Psychiater, Psychoanalytiker, zweifacher Vater und Autor. Zuletzt veröffentlichte Bücher: "Das gelungene Ich" (2017) und "Damit aus kleinen Ärschen keine großen werden" (2018).
Foto: Alexandra Diemand