Frankreichs Bauern erwarten Antworten von Präsident Macron – und untermalen das aktionistisch mit einem Traktorkonvoi in Paris.

Foto: AFP / Dominique Faget

In Paris steigt die sozialpolitische Fieberkurve an – wieder einmal. Den Virus hatten ursprünglich – vor etwas mehr als einem Jahr – die "Gelbwesten" verbreitet; doch bis heute reißen die Streiks, Demonstrationen und Aktionstage in Frankreich nicht mehr ab. Am gestrigen Mittwoch etwa organisierten die französischen Bauernverbände mit rund tausend Traktoren eine Sternfahrt nach Paris. Auf den Einfallstraßen und auf der Ringautobahn gab es sehr umfangreiche Staus.

Die bäuerliche Forderung nach "mehr Anerkennung" ist so diffus wie das Klima der sozialen Unruhe, die das Land ergriffen hat. In den Spitälern wird weiter mobilisiert, obwohl Staatspräsident Emmanuel Macron deren Milliardenschulden teilweise übernommen hat. An den Universitäten brodelt es, nachdem sich ein Politikstudent in Lyon selbst zu verbrennen versucht hatte. Der 22-Jährige, der im Koma liegt, hatte zuvor über seine prekären Lebensbedingungen berichtet. Seine Tat löste eine spontane Massenbewegung aus.

Streiks im Dezember

Alles läuft auf den 5. Dezember hinaus: Dann wollen die Gewerkschaften der Bahn SNCF, des Pariser Metro-Betreibers RATP sowie der Fluggesellschaft Air France in den Ausstand treten – und dann nicht nur Paris, sondern möglichst ganz Frankreich lahmlegen. Einzelne Bedienstete der staatlichen Elektrizitätswerke sowie Polizisten haben sich ihnen bereits angeschlossen.

Ihr Motiv: Macron wolle sie um ihre Spezialrenten bringen, die bedeutend vorteilhafter sind als die des Privatsektors. Die Lokführer können zum Beispiel schon ab 52 Jahren in Rente gehen. Macron will die zwei Dutzend "régimes spéciaux" mit ihren anachronistischen Vorrechten dem privatwirtschaftlichen Regime angleichen. Und das sei nur verständlich, wie der Chronist Olivier Bost vom Radiosender RTL festhielt: "Es ist einfach nicht normal, dass die Eisenbahner vor allen anderen in Pension gehen."

Der Reformbedarf ist ausgewiesen: Wie der strategische Rentenrat (COR) dieser Tage vorgerechnet hat, fehlen in der staatlichen Pensionskasse bis 2025 bis zu 17,2 Milliarden Euro.

Viel sozialer Sprengstoff

Macron hätte also gute Karten, um die wichtigste Reform seiner Amtszeit durchzubringen. Doch wie schon Ex-Premierminister Michel Rocard sagte: Rentenreformen bergen in Frankreich genug Sprengstoff, um nicht nur eine, sondern gleich mehrere Regierungen zu Fall zu bringen.

Der konservative Premier Alain Juppé hatte diese bittere Erfahrung 1995 gemacht, als er die Pensionen im öffentlichen Sektor an die Privatwirtschaft angleichen wollte: Nach wochenlangen Streiks und Blockaden musste er sein Projekt auf geradezu erniedrigende Weise zurückziehen; noch kurz zuvor hatte er in TV-Sendungen erklärt, er bleibe "standfest".

Macron hatte den Mut, schon im Präsidentschaftswahlkampf von 2017 einen neuen Anlauf anzukündigen. Die Umsetzung fällt ihm aber ungleich schwerer. Geschickt brachte er zuerst die gemäßigte Gewerkschaft CFDT auf seine Seite; die anderen ließ er ins Leere laufen, indem er den Reformtext zurückhielt und -hält. Die bei den Eisenbahnern dominierende CGT weiß deshalb gar nicht, wogegen sie streiken soll.

Spazieren mit dem Hund

Macrons Hinhaltetaktik – in Paris nennt man sie "den Hund spazieren führen" ("promener le chien") – hat aber einen Haken: Bei den nicht betroffenen, weil privatwirtschaftlich versicherten Franzosen wächst langsam der Verdacht, dass sie auch zur Kasse gebeten werden könnten. Macron beteuert zwar, er wolle das niedrige französische Rentenalter von 62 Jahren beibehalten; angesichts des horrenden Pensionsdefizits glaubt ihm das aber niemand so recht. So zeichnet sich eine zweite Rentenreform ab, noch bevor die erste auch nur startklar ist.

Die Folge, wie selbst die Macron-freundliche Zeitung L’Opinion moniert: "Die Franzosen verstehen nur noch Bahnhof." Arbeitgeberpräsident Geoffroy Roux de Bézieux fordert den Präsidenten ebenfalls auf, die Reform endlich vorzulegen und Farbe zu bekennen.

Späte Klarstellung

Macron gibt sich nun etwas präziser und erklärt offensiv, die Proteste beträfen nur die Nutznießer der Spezialrenten, also nicht alle Franzosen. Die Klarstellung kommt allerdings reichlich spät. Ganz Frankreich stellt sich auf einen harten, unbefristeten Transportstreik ein. Laut einer Umfrage unterstützen ihn 62 Prozent der Befragten – mehr als noch vor einem Jahr. Zu diesem Trend kommt ein revolutionärer Reflex der öffentlichen Meinung: Sie neigt in Frankreich meist jenen zu, die das Land blockieren. Für den Wahlmonarchen im Élysée-Palast macht das die Aufgabe nicht einfacher. (Stefan Brändle aus Paris, 27.11.2019)