Zoltan bettet sich vor der Schwarzmander-Kirche zur Nacht. Seit Jahren sind die Straßen Innsbrucks das kalte Zuhause des Ungarn. Er hat gelernt, im Verbotsdschungel zu überleben.

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Zoltan ist noch immer hier. So wie jeden Abend richtet er sich im Eingangsportal der Innsbrucker Schwarzmander-Kirche seinen zugigen Schlafplatz ein. Alles, was der 62-jährige Ungar besitzt, trägt er in einer Plastiktasche und einem Rucksack bei sich. "Die Kirche ist Asyl, hier ist alles okay", sagt Zoltan, während er seine Isomatte auf dem Teppich vor dem Holztor ausrollt. Mit vor Kälte klammen Fingern breitet er den Schlafsack darauf aus. "Es ist okay, es hat noch drei Grad. Das geht schon", beantwortet er fragende Blicke. Als Polster dient ihm die zusammengerollte Extrajacke, die er an diesem kalten Novemberabend noch nicht braucht.

Zoltan ist einer der ganz wenigen Obdachlosen, die noch rund um die Innsbrucker Altstadt nächtigen. Sein Schlafplatz liegt wenige Meter jenseits der Grenze der Nächtigungsverbotszone. Seit zwei Jahren ist das Übernachten im Freien in diesem Bereich der Innenstadt bei Strafe verboten. DER STANDARD berichtete 2017 in Form eines Lokalaugenscheines. Schon damals war Zoltan einer der Protagonisten. Allerdings nächtigte er im Oktober 2017 noch ein paar Meter weiter westlich, im Durchgang zur Altstadt.

Spießrutenlauf für Arme

Das ist mittlerweile verboten. Zoltan versteht zwar nicht ganz, was die paar Meter Unterschied ausmachen, aber er hat sich arrangiert. Er will Probleme tunlichst vermeiden, denn für Obdachlose ist Innsbruck zum Spießrutenlauf geworden. Die Stadt bekämpft Armut im öffentlichen Raum seit bald 20 Jahren mittels Verboten. Immer neue ortspolizeiliche Verordnungen sanktionieren unerwünschtes Verhalten, das eigentlich nicht strafbar wäre.

Alkoholverbote, Bettelverbote, Nächtigungsverbote. Selbst für die Streetworker vom Verein für Obdachlose ist es mittlerweile zur Herausforderung geworden, den Überblick zu behalten. "Wir verwenden einen großen Teil unserer Arbeit darauf, unsere Klienten juristisch zu beraten und gegen ihre Strafbescheide vorzugehen", erklären Michael Hennermann und Michael Neuner. Sie betreuen seit Jahren jene, die sich in Innsbruck kein Dach über dem Kopf leisten können.

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Die Politik der Verbote und Strafen, die sie als falschen Ansatz kritisieren, zeitigt zweifelhafte Erfolge. Die Armen sind in den vergangenen Jahren zunehmend aus dem Blickfeld der Innsbrucker Öffentlichkeit verschwunden. Doch das bedeutet nicht, dass die Armut gelindert worden wäre. Im Gegenteil, der Druck auf die Betroffenen hat wegen der rigiden Verbotspolitik kafkaeske Dimensionen angenommen.

Die Streetworker haben ganze Aktenordner voller Strafbescheide ihrer Klienten im Büro stehen. "Wir werden gezwungen, uns zu Erfüllungsgehilfen dieser Politik zu machen. Für klassische Sozialarbeit bleibt immer weniger Zeit", sagen sie. Es gibt mittlerweile einzelne Obdachlose, die fünfstellige Eurobeträge an Strafen gesammelt haben. Weil meist uneinbringlich, müssen sie in Form von Ersatzfreiheitsstrafen abgesessen werden. Ausbrechen aus der Armut wird dadurch unmöglich, erklären die Streetworker: "Schaffen wir es, jemanden wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, wird er gepfändet. Die Leute haben keine Chance und keinen Anreiz mehr, ihre Situation zu verbessern."

Vorwand für Abschiebungen

Zudem dienen die Strafbescheide als Vorwand, um osteuropäische Obdachlose abzuschieben und mit langjährigen Aufenthaltsverboten zu belegen. Allein im Frühsommer dieses Jahres wurden so rund 70 Personen aus Innsbruck entfernt. Die Polizei wartete teils mit Namenslisten jener, die wiederholt gegen Verbote verstoßen hatten, vor den Notschlafstellen, und nahm sie mit.

Zoltan weiß um die Gefahr und versucht, nicht aufzufallen. Doch kürzlich wurde er wieder mit einer Dose Bier in der Altstadt erwischt, ärgert er sich über seinen Fehler. Das wird teuer, 600 Euro Strafe oder vier Tage Haft sind dafür keine Seltenheit. 651-mal strafte der Innsbrucker Magistrat allein 2018 wegen Verstößen gegen das Alkoholverbot. Die hunderten Glühweintrinker, die an diesem Novemberabend in der Altstadt feiern, bleiben davon unbehelligt. Sie sind zahlende Gäste des Weihnachtsmarktes. Die Verbote zielen auf eine bestimmte Klientel ab.

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Mittlerweile weichen immer mehr Menschen, die auf Innsbrucks Straßen leben, in die Peripherie und umliegende Wälder aus. Sie verstecken sich dort, wo man sie nicht sieht und somit nicht strafen kann. Für die Streetworker bedeutet das, es wird immer schwieriger, die Hilfsbedürftigen zu finden. Nur die Politik freut sich über vermeintlich gelöste Probleme und hält unbeirrt an den Verboten fest.

Zoltan erzählt, dass es in seiner Heimat Ungarn noch schlimmer ist. Dort wird Obdachlosigkeit bereits mit Haftstrafen geahndet. Daher wartet er weiter in Innsbruck, bis er mit 65 Jahren Pensionsanspruch hat und zurückkehren kann. "Wenn ich die drei Jahre noch überlebe, miete ich mir ein Häuschen am Plattensee", träumt er von einer besseren Zukunft.

Dann zieht er die Schuhe aus und kriecht in seinen Schlafsack. Er zündet sich die Zigarette an, die er für abends in einer Metalldose aufbewahrt hat, und legt die Haube, in der ein Zettel mit der Aufschrift "Danke" liegt, neben seinen Kopfpolster. Betteln ist zwar auch verboten, aber nur "aggressives" und zu bestimmten Zeiten. (Steffen Arora, 28.11.2019)