"Eine Option für die Sozialdemokratie sehe ich darin, gesellschaftspolitisch progressive Themen mit Verteilungspolitik zu verbinden", sagt Silja Häusermann.

Foto: UZH Zürich

Die Schweizer Politologin Silja Häusermann sieht den Grund für die Krise der sozialdemokratischen Parteien in Europa darin, dass diese zu spät auf den ökonomischen Strukturwandel reagiert hätten.

STANDARD: In nur noch sieben von 28 EU-Staaten führen klassische Mitte-links-Parteien die Regierung. Worin liegen die tieferen Ursachen für die Krise der Sozialdemokratie?

Häusermann: Die klassischen Volksparteien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – also nicht ausschließlich die Sozialdemokratie, sondern auch die Parteien der moderaten Rechten – haben in der Tat in den meisten Ländern über die letzten 30 Jahre zehn bis 15 Prozentpunkte an Wähleranteil eingebüßt. Die Gründe dafür liegen vor allem im ökonomischen Strukturwandel und der Bildungsexpansion. Die Arbeiterklasse schrumpft, die Mittelklasse wächst. Damit kamen neue Themen auf die Agenda, welche diese Parteien nur ungenügend selber besetzen konnten. "Links sein" heißt für jüngere Menschen heute etwas anderes als für ältere. Den meisten sozialdemokratischen Parteien ist es nicht gelungen, sich in diesem neuen Umfeld neu zu erfinden. Oder sie haben es zu spät versucht.

STANDARD: In Deutschland zeichnet sich an der SPD-Spitze ein Duell zwischen einem etablierten, erfahrenen Duo und einem ab, das die Partei wieder weiter links führen will. Welches Konzept verspricht abseits der Personen Ihrer Meinung nach am meisten Erfolg?

Häusermann: Ein ökonomischer Linkskurs dürfte sich gerade in Deutschland kaum auszahlen, zumal dort ja schon die Linke seit etlichen Jahren ihr Angebot positioniert. Ein zentristischer Kurs dürfte den linken "Block" – inklusive der Grünen und Linkspartei – längerfristig stärken beziehungsweise stabilisieren, aber wohl nicht die Wählerstärke der SPD selber maximieren. Aus Umfragedaten ist ersichtlich, dass das größte Wählerpotenzial bei Wählern und Wählerinnen liegt, die nicht nur ökonomisch, sondern vor allem auch gesellschaftspolitisch dezidiert progressive Positionen vertreten.

STANDARD: Wie könnte eine Trendwende in der sozialdemokratischen Politik gelingen?

Häusermann: Da die strukturellen Faktoren nun schon seit mehr als zwei Jahrzehnten die Wählerpotenziale und Agenden umpflügen, sehe ich keine einfache Möglichkeit zur Trendwende. Eine Option für die Sozialdemokratie sehe ich darin, gesellschaftspolitisch progressive Themen mit Verteilungspolitik zu verbinden und dies ins Zentrum zu stellen – also einen stärkeren Fokus auf Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit, Gleichstellung und soziale Mobilität zu legen. Diese Themen liegen gerade den jüngeren, linken Wählern und Wählerinnen sehr am Herzen.

STANDARD: Was können andere von aktuellen sozialdemokratischen Regierungen wie in Schweden oder in Portugal lernen?

Häusermann: Wichtig ist immer, den Kontext zu beachten. In einem Land wie Portugal beispielsweise sind gesellschaftspolitische Themen weniger politisiert, da greifen ökonomische Themen. Das ist nicht dasselbe in Ländern mit starken grünen und rechtsnationalen Parteien, in denen der Wahlentscheid viel stärker von gesellschaftspolitischen Themen geprägt ist. Einige Bedingungen sind aber sehr ähnlich zwischen den Ländern: Ins besondere können sich überall nur sehr wenige rechtsnationale Wähler und Wählerinnen vorstellen, jemals sozialdemokratisch zu wählen. Hingegen sind enorm viele potenzielle Wähler und Wählerinnen bei anderen links-progressiven Parteien zu finden. Das bedeutet, dass potenzielle Gewinne von ganz rechts generell schwierig zu realisieren sein dürften. (Manuela Honsig-Erlenburg, 29.11.2019)