Adelheid Popp, "Jugend einer Arbeiterin", 20,– Euro / 158 Seiten. Picus-Verlag, Wien 2019
Cover: Verlag

Im Mai kam in Österreich der Film Inland von Ulli Gladik in die Kinos. Man konnte dort Christian kennenlernen, einen Wiener aus Favoriten, der sich von der FPÖ politisch am besten vertreten fühlt. Dass er selber aus einer Familie ehemaliger Ausländer kommt, ein Nachfahre von Zuwanderern aus Böhmen, das macht ihn nicht gnädiger gegenüber Menschen, die später neu nach Österreich gekommen sind.

Ich musste an Christian denken, als ich Adelheid Popps Lebensbericht Jugend einer Arbeiterin las. Das Buch erschien erstmals 1909, der berühmte Sozialist August Bebel schrieb ein Vorwort, denn es galt, eine Erfolgsgeschichte zu vermelden.

Adelheid Popp, das fünfzehnte Kind einer Frau, die aus Zentralböhmen nach Wien gekommen war, hatte sich aus einfachsten Verhältnissen nicht nur einen guten Lebensstandard erarbeitet, sie war vor allem auch zu einer engagierten Politikerin geworden. In der österreichischen Sozialdemokratie hat sie heute in der Ahnengalerie einen bedeutenden Platz.

Wilde Verhältnisse

Und doch hätte alles ganz anders kommen können, wenn sie seinerzeit, als sie noch keine 14 Jahre alt war, in ihre vermeintliche Heimat abgeschoben worden wäre. Dieses Schicksal drohte ihr, weil sie nicht zur Schule ging, sondern vor lauter Arbeit nicht mehr ein noch aus wusste. Ihre Mutter war "eine Feindin der neumodischen Gesetze", die eine allgemeine Schulpflicht auch in Inzersdorf vorsahen, wo damals noch wilde Verhältnisse herrschten.

Die Jahre, in denen sie eigentlich die Grundlagen für ihre Bildung hätte legen sollen, verbrachte Adelheid in wechselnden Stellungen und Ausbeutungsverhältnissen, gelegentlich auch im Spital, und einmal entging sie nur knapp der "bürokratischen Schablone", nach Böhmen gebracht zu werden.

Dass aus einem "von frühester Kindheit an durch Arbeit und Hunger um alle Kinderfreuden gebrachten Geschöpf" schließlich nach vielen Umwegen eine Feministin und Sozialpolitikerin wurde, verdankte sich einer der elementaren Fähigkeiten, auf denen Bildung beruht: Sie begann zu lesen.

Neurologisches Fundament

Und zwar zuerst einmal ganz einfaches Lesefutter. "Indianergeschichten, Kolportageromane, Familienblätter, alles schleppte ich nach Hause. Neben Räuberromanen, die mich besonders fesselten, interessierte ich mich lebhaft für die Geschichte unglücklicher Königinnen."

Diese Bemerkung kann ich gut nachvollziehen. Auch in meinem Leseleben gab es eine erste Phase, in der es zuerst einmal einfach nur darum ging, diese außergewöhnliche Erfahrung, aus Buchstaben im Kopf eine Welt werden zu lassen, möglichst intensiv zu machen. Da ging es noch nicht um die Qualität der Texte, da wurde eher ein, ich würde fast sagen, neurologisches Fundament für die Beziehung zu Büchern gelegt.

Von da kam Adelheid Popp irgendwann zu Schiller und später zu Die Lage der arbeitenden Klasse in England von Engels. Über den Bildungsweg von Adelheid Popp, der nun in einer schönen Ausgabe wieder vorliegt, würde ich mich gern einmal mit Christian aus Favoriten unterhalten, wenn er es denn lesen wollte. Schöne Grüße. (Bert Rebhandl, 10.12.2019)