Mircea Cartarescu, "Solenoid". Übers. aus dem Rumänischen: Ernst Wichner. 36,– Euro / 912 Seiten. Zsolnay, Wien 2019
Cover: Verlag

Der mit Abstand unmäßigste Roman dieser Wochen, Monate und Jahre ist zugleich die zärtlichste Liebeserklärung an eine kommerziell aufgeweichte Form. "Solenoid" bildet ein flammendes Plädoyer für den Roman: als Maschine, die niemals ruht. Die aber bestens geeignet ist zur Hervorbringung seiten- oder sogar kapitellanger Beschreibungsexzesse.

Dabei ist Mircea Cartarescus 900-Seiter vor allem für Hartgesottene geeignet. Der rumänische Romancier nimmt seine Leser bei der Hand. Er führt sie durch das Bukarest der 1980er-Jahre. Man stolpert vorbei an den Kulissen eines Bruchbuden-Kommunismus, der wie verreckt daliegt im unzureichenden Licht schwacher Elektrizität.

Kindheit als Passionsgeschichte

Der Held ist Pädagoge, der seinen Schuldienst in einer Art Orkus abzuleisten gewohnt ist. Dieser besteht aus langen Schulkorridoren, aus Kliniken und Fabrikbauten, die wie urzeitliche Echsen zu verröcheln scheinen. Zugleich betritt er – mit uns ungläubig Staunenden als Zeugen – eine Welt hinter den Spiegeln.

Alles schwankt, als stünde es auf organisch zuckenden Plasmaböden. Die eigene Kindheit wird vom Autor in eine kolossale Passionsgeschichte umgedeutet. Im Zeichen des Schmerzes und der Erniedrigung wird ein Kind pädagogisch bestraft und durch den Fleischwolf des Totalitarismus gejagt.

Doch in der säurezerfressenen Bukarester Erde liegen sechs "Solenoide" vergraben: Zylinderspulen, die konstante Magnetfelder erzeugen. In ihrem Sog potenziert sich die armselige Welt um ein Vielfaches ihrer selbst. Alles schwillt organisch an, gewinnt ungeahnte Volumina, nimmt eine Überfülle von Bedeutungen an. Und so wird der Erzähler (als Tagebuchschreiber) zum Exekutor eines Traumprotokolls: angelegt in einem Privathaus, das einer gestrandeten Arche ähnelt.

Man kann Solenoid als verspätete Antwort auf Dantes Göttliche Komödie lesen. Vielleicht sind wir Menschen auch gar keine Schatten, sondern Krätzmilben, die in der "Haut eines unausdenkbaren Gottes" stecken. Wäre es so, müsste uns das nicht kratzen. (Ronald Pohl, 18.12.2019)