Ivna Žic, "Die Nachkommende". 20,– Euro / 164 Seiten. Matthes & Seitz, Berlin 2019
Cover: Verlag

Die Eisenbahn ist ein Schauplatz mit internationalem Flair. Die Fahrgäste steigen in einem Land ein und im nächsten aus. Manchmal auch erst im übernächsten, wenn es die Flugscham gebietet. Im gemischten Haufen der Reisenden hat Ivna Žic auch Tote platziert.

Der verstorbene Großvater begleitet die Erzählerin auf ihrer Reise von Paris über Zürich nach Zagreb. Dort, auf einer nahen Insel, wird sie zum alljährlichen sommerlichen Familientreffen erwartet.

Genau genommen aber begleitet er sie noch viel öfter. Und auch Großtanten und Großonkel, bucklige und schielende, sind mit von der Partie, wenn die Erzählerin sich mit ihrem Geburtsland Kroatien, mit der Stadt ihrer frühesten Kindheit, Zagreb, konfrontiert.

Es gibt Anhaltspunkte für eine autobiografische Lesart des Debütromans von Ivna Žic. Auch sie stammt aus Zagreb, übersiedelte als Kleinkind in die Schweiz, wo sie heute auch lebt.

Der Titel Die Nachkommende hat genealogische Implikationen im Sinne der Nachkommenschaft, aber auch zeitliche. Denn die junge Frau scheint immer die zu sein, die dann, wenn alle schon zum Wiedersehen versammelt sind, erst nachkommt. Die es dann, man ahnt es fast, doch nicht schafft, der Mischpoche in die Arme zu fallen.

Essen und Trinken

Es ist also kompliziert. Gelebtes Leben und Erinnerung kreuzen einander in einem Bild von gestückelter, vielleicht sogar zerrissener Heimat: Spaziergänge über den Ban-Jelaèiæ-Platz in Zagreb oder den Friedhof Père Lachaise in Paris.

Am versöhnlichsten (und verlässlichsten) als Bezugspunkte beim Flanieren durch "vergangene" Landschaften funktionieren Essen und Trinken: Slanac, das gute Brot, der Kräuterschnaps Pelin.

Geschrieben in einer Sprache ohne Wehmut, die sich nur in seltenen Fällen und dann fabelhafte Metaphern erlaubt: "Es war die Zeit, in der jedes Wort ein dunkles Versteck war, in das man tief hineinschaute und wartete, bis die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten."

Es sind flüchtige Wahrnehmungen, die Žic mit Tempo aneinanderreiht, gefiltert wie eine vielmals vollzogene Bewegung oder eine oft heraufbeschworene Erinnerung. Ohne jede Melodramatik winkt sie Impressionen durch.

Die Fahrt in das Urlaubsland ist eben kein Urlaub, sondern die oft quälende Erfahrung, dass die Erzählungen der Vergangenheit heute keine Sprecher mehr haben.

Denkwürdige Faktenlage

Die Reise ist auch die Verlustanzeige einer Liebe – ihrer Liebe zu einem verheirateten Mann, einem Maler, der mit dem Malen aufgehört hat. Damit spiegelt sich die junge Frau ungeplant in der eigenen Familiengeschichte: Auch der Großvater war Maler, der das Malen sein ließ und in Paris ebenfalls und kurz eine heimliche Geliebte hatte ("die Frau in Türkis").

Eine denkwürdige Faktenlage, die ganz ohne auratischen Tonfall auskommt. Es verblüfft, wie Ivna Žic auf nur 164 schmalen Seiten die Erfahrungen eines Kindes der Diaspora, mit allen Verlusten und aller Schönheit, so intensiv verdichten konnte. Andere brauchen dafür 400 Seiten. (Margarete Affenzeller, 16.12.2019)