Tillie Walden, "West, West Texas". 29,– Euro / 320 Seiten. Reprodukt, 2019
Cover: Verlag

Dicke, unförmige Schneeflocken. Mal sinken sie schwer und friedlich weiß herab, dann wieder wirbeln sie ungestüm und ziellos durchs Bild. Sie trüben die Sicht, als würde sich hinter dem Gestöber etwas Unergründliches verbergen.

Sie werfen bunte Schatten durch die Fensterscheiben des Autos, in dem Bea und Lou sitzen und einen Ort in Texas suchen, der seltsamerweise auf keiner Karte verzeichnet ist. Dass es überhaupt schneit in Texas, ist selbst im Jänner eine absolute Seltenheit. Doch das ist nicht die einzige Anomalie in Tillie Waldens faszinierendem Road-Comic West, West Texas.

Hier sind die Nächte in episches Purpur-Karmesinrot getaucht, und inmitten einer enterischen Landschaft, zwischen Ölraffinerien und verlassenen Dörfern, offenbart der schwer konservative US-Bundesstaat Texas eine unvermutet abgründig-magische Seite.

Innere Dämonen

Durch reinen Zufall liest Lou an einer Tankstelle die junge Bea auf, die sie flüchtig aus der Nachbarschaft kennt, und nimmt sie in ihrem klapprigen Auto samt winzigem Wohnanhänger mit. Schnell wird klar: Sie wollen beide ausbrechen, wissen nicht, wohin mit sich. "Alle, die ich kenne, machen mich verrückt", sagt Lou, 27-jährige, offen lesbische Mechanikerin.

Die 18-jährige Bea, misstrauisch und impulsiv, will nur weg von zu Hause, ohne Plan, ohne Ziel. Doch Worte sind in dieser Graphic Novel ohnehin nur vorgeschoben, die oft abgehackten Dialoge und unvollendeten Sätze sind nur Hinweise auf innere Dämonen.

Auf ihrer Fahrt durch die texanische Einöde läuft ihnen eine Katze zu, deren Marke eine Adresse in West, West Texas angibt. Damit gibt es ein Ziel für den Trip, der sich immer mehr in ein fantastisch-verstörendes Abenteuer entwickelt, in dem sich die beiden Protagonistinnen Hals über Kopf verheddern.

In einer surrealen Landschaft, die aus Raum und Zeit gefallen zu sein scheint und einem David-Lynch-Film genauso wie einer Ghibli-Studio-Produktion entsprungen sein könnte, kommt es zu Verfolgungsjagden mit Vertretern eines ominösen "Verkehrsamts für Fernstraßenverwaltung", zu Offenbarungen im Schneesturm.

Fast nebenbei bröckeln dabei auch innere Mauern: Bea outet sich erstmals als lesbisch, spricht über sexuellen Missbrauch, Kindheitstraumata brechen auf.

Souverän, sensibel, feministisch

Die Texanerin Tillie Walden (Jahrgang 1996) ist eine der spannendsten Newcomerinnen am Indie-Comic-Markt. Souverän, sensibel, feministisch zeichnet sie Geschichten, in denen junge Frauen aberwitzige Abenteuer erleben, wie wir sie seit der Love and Rockets-Saga der Gebrüder Hernandez nicht mehr gesehen haben – so wie in der Space-Opera On a sunbeam (bisher nur auf Englisch erschienen).

Für ihre Autobiografie Pirouetten über ihre Zeit als kompetitive Eiskunstläuferin erhielt Tillie Walden mit gerade 22 Jahren den Eisner Award, quasi den Oscar für Comics. Auch in West, West Texas schafft sie es mit einer verblüffenden Leichtigkeit, alternative Lebensentwürfe und Coming-of-Age -Kämpfe mit psychologischem Tiefgang zu verhandeln – und dabei atemberaubend schöne Welten zu kreieren. Darauf hat die (Comic-)Welt gewartet! (Karin Krichmayr, 17.12.2019)