Friedrich Hölderlin, Priesterseminarist, dem vor allem griechisch zumute war.

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Gegenüber Proben menschlicher Bedürftigkeit verhielt sich Friedrich Hölderlin, der griechischste unter allen "klassischen" deutschen Dichtern, vollkommen hilflos. Evangelische Priesterseminaristen wie der jünglingshafte Schwabe mussten sich häufig, um nur irgendwie ihr Auslangen zu finden, als Hauslehrer verdingen.

Auf dringende Empfehlung Friedrich Schillers trat Hölderlin im Jänner 1794 eine Stelle als Hofmeister bei Charlotte von Kalb in Waltershausen an. Zwar paukte er zu aller Zufriedenheit mit dem Spross des Hauses griechische Vokabeln. Doch stieß den idealisch gesonnenen Mann, der am liebsten mit den Göttern Griechenlands insgeheim Zwiesprache hielt, ein Laster des Buben vor den Kopf. Der kleine Kalb frönte, trotz ernster Ermahnungen, ausgiebig der Angewohnheit der Onanie.

Wie so oft in Hölderlins Leben wiederholte sich die immergleiche Fluchtbewegung: Der Dichter so dunkler wie daseinstrunkener Hymnen geriet in helle Auflösung und schmiss den lukrativen Job hin. Kaum stellte die häufig unleidliche Realität an den Schwaben irgendwelche Ansprüche, reagierte er panisch. Oder er rutschte überhaupt hinüber in einen Zustand des Irreseins. Wobei bis heute unklar ist, ob er Anwandlungen von Wut und Betrübnis aus politischen Rücksichten nicht auch vortäuschte.

Speerspitze des Idealismus

Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen mit der Deutschen rätselhaftestem Dichter. Hölderlin (1770–1843) bildete bereits in frühen Jahren, gemeinsam mit späteren Starphilosophen wie Hegel oder Schelling, die Speerspitze des Deutschen Idealismus. Man wollte in Tübingen und Umgebung die von Immanuel Kant ausgelöste Vernunftrevolution weitertragen. Zugleich beobachtete man bass erstaunt, wie im benachbarten Frankreich die Vertreter der allerhöchsten Vernunft Gefängnisse stürmten und Könige köpften.

Junge Schwärmer wie Hölderlin gerieten – ob der sich abzeichnenden neuen Möglichkeiten – schier aus dem Häuschen. Man schloss Freundschaftsbünde, stammelte vom "Parnass", vom "Schnee delphischer Felsen" und fiel einander schönheitstrunken in die Arme. In ihren spekulativen Schriften versuchten die Feuerköpfe die Proben der jüngsten Subjektphilosophie mit der Politik zusammenzubringen. Durch das fruchtbare Wirken der Einbildungskraft sollte der Riss, der durch die Schöpfung geht, ein für alle Mal geschlossen werden.

Indem er hofft, so und nicht anders die Entzauberung der Welt rückgängig zu machen, krallt Hölderlin sich mit Gewalt ins Erdreich der Antike. Er lallt und stammelt dabei die herrlichsten Verse, die jemals ein deutscher Dichter geschrieben hat. Doch kaum jemand versteht den jungen, schönen Mann, der als Hofmeister in Frankfurt die Hausherrin anbrät. Der sie aber sogleich ins überzeitlich Idealische erhebt ("Diotima") und vom Hausherrn, einem Bankier, prompt davongejagt wird. Der sich anbahnende Wahnsinn, der womöglich nur vorgetäuscht war, der Rückzug in den Tübinger Turm zu Meister Zimmer, dies alles gehört längst zur Geschichte eines "anderen", geheimen, in seinen aufklärungsfeindlichen Zügen auch dubiosen Deutschlands. Man denke an Martin Heideggers "Heidegängerei".

Es gehört zur feinen Klinge Rüdiger Safranskis, in seiner neuen Hölderlin-Biografie (Komm! Ins Offene, Freund!) gleichsam mit ein paar beherzten Kreidestrichen den ideellen Umraum zu skizzieren. Wen die Schönheit der Elegie Brod und Wein (sic!) nicht zu Tränen rührt, der wird auch niemals erfahren, dass wir in "schwärmerischer Nacht" leben. Dass Christus der letzte der heidnischen Götter war: als Stifter des Abendmahls ein Nachfahre des Dionysos.

Anschlussstellen für Nazis

Der Ringelreihen mit Göttern und Titanen hat, leider oder Gott sei Dank, niemals stattgefunden. Wie Karl-Heinz Ott in seiner gedankenreichen Studie Hölderlins Geister messerscharf analysiert, fanden sich in den Proben dieser zerklüfteten Dichtung genug Anschlussstellen für Nationalsozialisten, aber auch für linke Systemzerstörer. Vor der menschlichen Hinfälligkeit muss es den armen Hölderlin gegraust haben. Er wollte standesgemäß unter Menschen mit Idealmaßen verkehren – am Mutterbusen der Natur nuckeln, von ihrem "ewigvollen Becher" trinken.

Heute geht es Hölderlin nicht anders als dem bärbeißigen Tonsetzer Beethoven. Er hat zwar erst 1770 (den 20. März) 250. Geburtstag. Der Markt wird schon jetzt mit Jubiläumsprodukten geflutet. Doch Friedrich Hölderlin war ja auch ein Verfrühter, Unverstandener. Und das ist er bis heute geblieben. (Ronald Pohl, 30.11.2019)