Bild nicht mehr verfügbar.

Gute Freunde bekamen von Jean-Claude Juncker stets ein Küsschen: im Juli 2019 mit seiner Nachfolgerin Ursula von der Leyen ...
Foto: Reuters / Francois Lenoir

Er hat schwierige Wochen und Monate hinter sich, gesundheitlich. Dass Jean-Claude Juncker Probleme mit dem Ischias-Nerv hat, ist bekannt, seit 2018 Bilder von einem Nato-Treffen in Brüssel um die Welt gingen: Sie zeigten, wie er ein Podest nicht besteigen konnte. Regierungschefs mussten ihn stützen. Es sind Folgen eines Autounfalls im Herbst 1989. Damals war er luxemburgischer Finanzminister. Er lag wochenlang im Koma, "verschlief" den Fall der Berliner Mauer. Doch schon 1990 war der oft schalkhafte Juncker ganz nah dran, wurde als EU-Verhandler einer der Väter der Währungsunion und somit des Euro.

Knapp 30 Jahre später machte er in den turbulenten Brexit-Zeiten und im Finale seiner Amtszeit als EU-Kommissionspräsident wieder Bekanntschaft mit Chirurgen: Im August musste Juncker den Urlaub in Tirol abbrechen und sich einer Gallen blasenoperation unterziehen. Vor knapp drei Wochen kam er erneut unters Messer: ein lebensgefährlicher Eingriff wegen eines Aneurysmas an einer Baucharterie. "Normale" Menschen in Junckers Alter, er wird im Dezember 65, hätten sich wahrscheinlich eine Auszeit gegönnt, eine Rehabilitation – oder wären in Pension gegangen.

Hart im Nehmen

Für "JC" kam das alles nicht infrage. So zerbrechlich er äußerlich wirkt: Juncker ist hart im Nehmen, ein disziplinierter Arbeiter; einer der den Ernst seiner Tätigkeit mit französischem Lebensstil, Späßen und Wortwitz aufzulockern weiß. Etwa als "Küsserkönig" bei den Begrüßungsritualen des strengen Protokolls. Er hat sich nie geschont, wenn es um das gemeinsame Europa ging, "die große Liebe" seines Lebens, wie er im Europäischen Parlament bekannte.

Bild nicht mehr verfügbar.

... im Oktober 2017 mit dem damaligen Außenminister und späteren Kanzler Sebastian Kurz ...
Foto: AP / Virginia Mayo

Zehn Tage nach der OP saß Juncker also wieder am Schreibtisch, gab Interviews, machte letzte Erledigungen. Er räumte seine große Bürolandschaft im obersten Stock des Berlaymont-Gebäudes, wie die EU-Zen trale heißt. "Schweren Herzens" habe er viele von seinen tausenden Büchern verschenken müssen, weil in seinem neuen, kleinen Ausgedingebüro im Haus zu wenig Platz sei.

Staffelübergabe am 1. Dezember

An diesem Sonntag, dem 1. Dezember, ist Schluss: Dann wird Ursula von der Leyen als seine Nachfolgerin ihren Dienst antreten. Sie muss von der ersten Minute an funktionieren – am Montag gleich zum UN-Klimagipfel nach Madrid fliegen. Am 12. Dezember wählen dann die Briten ein neues Parlament. Von der Leyen muss dann den Brexit bis Ende Jänner 2020 möglichst fehlerlos umsetzen und gleichzeitig eine große Reform der verbliebenen Union der EU-27 einleiten.

Paris und Berlin wollen beim EU-Gipfel am 12. Dezember, dem britischen Wahltag, den gemeinsamen Startschuss geben. Dazwischen findet noch der Nato -Gipfel in London statt. Sicherheitspolitisch ein Schlüsselevent für die EU-27, die nicht nur mit Spannungen mit den USA ringen, sondern auch um eine stärkere gemeinsame Sicherheits- und Militärpolitik – und um mehr Einfluss im transatlantischen Bündnis.

Bild nicht mehr verfügbar.

... im Oktober 2016 mit der damaligen Brexit-Verhandlerin Theresa May ...
Foto: Reuters / Francois Lenoir

Nicht nur das wird nach dem Abgang der Briten deutlich schwieriger. Im langfristigen EU-Budget fehlen Milliarden – eine weitere Riesenaufgabe für das neue Von-der-Leyen-Team. All das und noch viel mehr ist Teil des Erbes, das der Luxemburger Juncker der Deutschen von der Leyen hinterlässt. Zumindest sicherheitspolitisch könnte sie sich als langjährige Verteidigungsministerin des großen Deutschland leichter tun als der "Kleinstaatler" Juncker.

Keine "großen Würfe"

Aber viel mehr als Absichtserklärungen gibt es zur EU-Militärpolitik (noch) nicht. So ist das auch, was die Besteuerung von Internetgiganten oder von Finanzgeschäftemachern betrifft. In den vergangenen Jahren wurde über eine EU-weite CO2-Steuer wie über Finanztransaktionen viel geredet. Aber "große Würfe" scheiterten jeweils an den nationalstaatlichen Egoismen.

Regierungschefs mochten Juncker aufs Nato-Podest geholfen haben; doch bei der von ihm versuchten Integration ließen sie die EU-Kommission oft allein. Sie setzen eine gemeinsame Asyl- und Aufnahmepolitik nur zaghaft um. Die 2017 von Juncker angedachte EU-Reform an Haupt und Gliedern wurde aufgeschoben.

Bild nicht mehr verfügbar.

... und im Februar 2019 mit der Klimaaktivistin Greta Thunberg.
Foto: Reuters / Yves Herman

So bleibt nach fünf Jahren eine gemischte Erfolgsbilanz. Vor allem ökonomisch ist ihm mit dem "Junckerplan" zur Ankurbelung von Investitionen einiges gelungen. Es gab starkes Wachstum, Millionen Arbeitsplätze wurden geschaffen, die tiefe Eurokrise überwunden, der von Deutschland lange betriebene Rauswurf Griechenlands aus dem Euroraum verhindert. Kein Weiterkommen gab es bei der Erweiterung. Die Aufhebung von Kontrollen an den Grenzen Bulgariens und Rumäniens zum Schengenraum wird seit Jahren blockiert, obwohl die beiden Länder die Kriterien erfüllen.

"Redlich bemüht"

Er sei zufrieden, wenn man ihm nach sage, dass er "sich redlich bemüht hat", meinte er auf die Frage nach seiner Bilanz. Hauptaufgabe eines Präsidenten der Kommission sei es, "den Laden zusammenzuhalten", Schlimmeres zu verhindern.

Den Austritt eines EU-Landes, den Brexit, sieht er als größtes Versäumnis – weil alle dadurch verlören. Aber wie man ihn hätte verhindern können, das weiß er auch nicht. (Thomas Mayer, 30.11.2019)

Bild nicht mehr verfügbar.

Letzter offizieller Presseauftritt am Freitag – mit einer Menge Applaus.
Foto: REUTERS / Yves Herman