Zu wenige, zu isoliert: Die Neandertaler waren womöglich schon stark gefährdet, als die modernen Menschen nach Europa einwanderten.

Foto: Petr Kratochvil

Es ist gerade einmal 45.000 Jahre her, da war Homo sapiens noch nicht die vorherrschende Menschenart in Europa. Homo neanderthalensis, der Neandertaler, lebte etwa 400.000 Jahren auf dem Kontinent – weit länger als moderne Menschen. Er war robust, intelligent, geschickt und hatte sich gut an seine Umwelt angepasst. Doch dann ging es schnell bergab: Vor etwa 30.000 Jahren waren die Neandertaler verschwunden. Übrig geblieben ist von dieser einst erfolgreichen Art nur ein kleiner Prozentsatz ihrer DNA, die sich im Erbgut heutiger Europäer und Asiaten findet.

Warum starben diese Menschen aus? Dafür gibt es viele mögliche Erklärungen, die unter Forschern kontrovers diskutiert werden. Dass eine katastrophale Epidemie dahinter steckte, gilt inzwischen als unwahrscheinlich – die Neandertaler verschwanden nicht schlagartig, sondern über einen Zeitraum von etwa 10.000 Jahren. Eine nach wie vor prominente These schreibt unseren Vorfahren eine Mitverantwortung zu: Denn das Verschwinden der Neandertaler fällt mit der Ankunft und zunehmenden Ausbreitung der modernen Menschen zusammen.

Eine weitere Vermutung ist, dass das Aussterben der Neandertaler mit klimatischen Veränderungen zusammenhängen könnte. War die Ernährungsweise dieser Menschen zu unflexibel, um ihren Fortbestand in Kältephasen zu sichern?

Populationsmodelle

Forscher um Krist Vaesen von der Technischen Universität Eindhoven bringen einen neuen Denkanstoß in die Debatte ein: Sie zeigen in einer Studie im Fachblatt "Plos One", dass die Neandertaler vielleicht einfach demografisches Pech hatten: Womöglich reichten zu geringe Populationsgrößen sowie natürliche Fluktuationen der Geburtenrate und Geschlechterverteilung schon aus, um den Untergang zu besiegeln. "Das Hauptergebnis unserer Studie ist, dass moderne Menschen nicht für das Verschwinden der Neandertaler nötig waren. Es ist definitiv möglich, dass sie einfach nur Pech hatten", sagte Vaesen.

Genetische und archäologische Daten weisen darauf hin, dass bei der Ankunft der modernen Menschen in Europa noch zwischen 10.000 und 70.000 Neandertaler lebten – allerdings in kleinen, weitgehend voneinander isolierten Populationen. Für ihre Studie simulierten Vaesen und Kollegen mögliche Populationsentwicklungen unter verschiedenen Szenarien. Dabei gingen sie von unterschiedlich großen Ausgangspopulationen aus – von 50, 100, 500, 1.000 oder 5.000 Individuen pro Gruppe.

Dann modellierten sie die Auswirkungen möglicher negativer Einflussfaktoren auf diese Populationen: Erstens Inzucht, zweitens zufallsbedingte Faktoren, die jährliche Geburten, Todesfälle und das Geschlechterverhältnis beeinflussen, und drittens den sogenannten Allee-Effekt. So bezeichnet man in der Populationsbiologie das Phänomen, dass die Populationsgröße bzw. -dichte mit der Fitness der einzelnen Individuen korreliert. Bei kleinen Populationen steigt demnach das Aussterberisiko ab einem kritischen Punkt signifikant.

Schleichende Katastrophe

Das Ergebnis: Inzucht allein hätte nur zu einem Zusammenbruch der kleinsten Populationen geführt. In Kombination mit dem Allee-Effekt könnte es aber bereits kritisch geworden sein: Durch diese beiden Faktoren könnten Populationen mit 1.000 Individuen zusammengebrochen sein. Zusammen mit ungünstigen zufälligen Fluktuationen, etwa Geburtenrückgänge oder steigende Todesraten in einzelnen Jahren, könnten dadurch über einen Zeitraum von 10.000 Jahren alle simulierten Populationen ausgestorben sein.

Vaesen und Kollegen behaupten nicht, das Schicksal der Neandertaler damit endgültig aufgeklärt zu haben. Sie wollen aber eine neue Sicht in die Debatte einbringen: "Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Verschwinden der Neandertaler allein an der Größe ihrer Populationen gelegen haben könnte. Selbst wenn sie den modernen Menschen in kognitiver, sozialer und kultureller Hinsicht nicht unterlegen waren und nicht in direkter Konkurrenz mit ihnen standen, waren sie einem erheblichen Aussterberisiko ausgesetzt." Das sei mit Blick auf die Erdgeschichte auch nicht weiter ungewöhnlich, so Vaesen: "Arten sterben aus, das ist ein natürlicher Prozess." (David Rennert, 26.12.2019)