Wien – Es waren "die außerordentlich glaubwürdigen Aussagen" der drei Opfer, begründet Christoph Bauer, Vorsitzender des Schöffengerichtes, warum der Senat Doppelolympiasieger Peter Seisenbacher wegen schweren sexuellen Missbrauchs Unmündiger zu fünf Jahren unbedingter Haft verurteilt hat.

"Wir hatten nicht den Eindruck, dass sich die gegen Sie verschworen haben", widersprach der Richter auch klar der Verteidigungsstrategie des 59-jährigen Unbescholtenen. Davor bleibt Seisenbacher auch am zweiten Verhandlungstag dabei: Die Vorwürfe, die drei seiner ehemaligen Judoschülerinnen erheben, stimmen nicht. Zwei der mutmaßlichen Opfer waren vor einer Woche unter Ausschluss der Öffentlichkeit befragt worden. "Haben Sie das Gefühl gehabt, dass die beiden gelogen haben?", will Bauer wissen. "Sie sagen die Unwahrheit", antwortet der Exsportler ruhig.

Freispruch verlangt

Verteidiger Bernhard Lehofer hatte zuvor einen Freispruch verlangt. Seisenbacher sei nicht "der böse Narzisst, der Mephisto". "Ich und viele, viele andere Leute sind von seiner Unschuld überzeugt", betonte Lehofer. Er zählte "Risikofaktoren" auf, die er den Belastungszeuginnen unterstellte.

Diese könnten aus Eifersucht, aufgrund schwerer Enttäuschungen oder psychischer Probleme die Unwahrheit gesagt haben, mutmaßte der Anwalt: "Ihre Angaben sind nicht derart valide, dass man einen unbescholtenen Mann verurteilten könnte." Demgegenüber ortete Lehofer "ausreichend Argumente, um den Ausführungen des Herrn Seisenbacher Glauben zu schenken". Seisenbacher selbst verzichtete auf ein Schlusswort und verwies auf Lehofers Feststellungen.

Der Prozess bis zum Urteil

Seisenbacher nutzte am Montag die Gelegenheit, um darzulegen, warum er bei Hauptbelastungszeugin K. an einen Rachefeldzug glaubt. Die sei auf seine Vermittlung hin an der prestigeträchtigen Tokai-Universität in Japan aufgenommen worden, wo er sich selbst 1984 vor seinem ersten Olympiasieg vorbereitet hatte.

Zum zweiten Mal muss Doppelolympiasieger Peter Seisenbacher im Großen Schwurgerichtssaal Platz nehmen.
Foto: APA/Helmut Fohringer

2010 sei er als georgischer Judo-Nationaltrainer wieder in Japan gewesen, als ihn eine Universitätsmitarbeiterin aufgeregt kontaktierte, wie er sich erinnert. "Sie erzählte mir, dass K. der Universität verwiesen worden wäre" und er, Seisenbacher, nicht zu K.s Gunsten intervenieren solle. Danach habe er K. auch in einer Hotellobby getroffen, die ihn genau darum gebeten habe. Seisenbacher lehnt ab. "Dann ist die Stimmung ziemlich gekippt. Sie war in keinem guten Zustand", behauptet der Angeklagte.

Angebliche Retourkutsche für fehlende Unterstützung

Er habe versucht, ihr gut zuzureden, das Nächste, was er von K. hörte, sei gewesen, dass sie ihren Aufenthalt abgebrochen habe. Seisenbachers Theorie: K. und ihre Mutter, mit der er eine Affäre gehabt habe, wollten sich für die ausgebliebene Unterstützung revanchieren. Privatbeteiligtenvertreterin Eva Plaz legt im Prozessverlauf allerdings einen Mailverkehr zwischen K. und einer Uni-Mitarbeiterin vor, der eher gegen eine unfreiwillige Trennung spricht. Außerdem sei K.s Anzeige erst Jahre danach erfolgt.

"Sie hat Ihnen hier ein Märchen erzählt", formuliert der Angeklagte es eindeutig. "Was hat Frau W. damit zu tun?", fragt der Vorsitzende darauf und meint die Aussage eines weiteren mutmaßlichen Opfers. "Nichts." – "Die belastet Sie aber auch. Warum soll sie lügen?" – "Ich habe nicht auf alles eine Antwort. Aber K. sagt die Unwahrheit", beharrt Seisenbacher. Und ergänzt vage: "Auf die Zusammenhänge zwischen den Mädchen kann ich mir einen Reim machen, aber man kann nicht alles beweisen."

Christoph Bauer stellt als Vorsitzender des Schöffengerichts reihum kritische Nachfragen.
Foto: APA/Helmut Fohringer

Die erste Zeugin des zweiten Verhandlungstages bricht eine Lanze für den Mann, mit dem sie elf Jahre lang bis September 2016 eine Beziehung hatte. "Ich hatte damals selbst eine kleine Tochter, und bei einem Verdacht hätte ich sicher keine Beziehung mit ihm geführt", stellt sie klar, dass ihr nie etwas Ungewöhnliches aufgefallen sei. "Frau K. hat ausgesagt, der Angeklagte sei eine Art Vaterersatz für sie gewesen?", bohrt Bauer nach. "Nein, es war ein ganz normales Trainer-Schüler-Verhältnis", ist Seisenbachers Ex-Partnerin überzeugt. K. und W. seien vielleicht zehnmal am Abend zur Kinderbetreuung da gewesen.

Immer wieder Damenbesuch

Dass die Zeugin aber ganz offensichtlich nicht alles darüber wusste, wie der Angeklagte seine Freizeit gestaltete, zeigt sich bei einem anderen Zeugen. Der war Co-Trainer und wüsste nicht, wann die von Staatsanwältin Ursula Schrall-Kropiunig angeklagten Übergriffe bei Trainingslagern am Wochenende und in den Ferien zwischen 1999 und 2004 stattfinden hätten sollen. "Er hatte immer wieder Damenbesuch von den Müttern der Kinder, und manchmal war auch seine Freundin da, er hatte Stress", erinnert sich dieser Zeuge, was sogar dem mit vor der Brust verschränkten Armen dasitzenden Angeklagten ein Lächeln abringt.

Der Normalzustand ist, dass Seisenbacher in dieser Pose unverwandt vor sich hin starrt. Ein Umstand, dem ihm Opfervertreterin Eva Plaz zur Irritation Bauers in ihren Schlussworten zum Vorwurf macht. Seisenbacher wirke "mephistophelisch", also teuflisch, beschreibt sie. Was wiederum Verteidiger Bernhard Lehofer dazu bringt, Vermutungen über K.s Motive für die Anschuldigung zu wälzen – Rache und Berechnung sind darunter.

Beobachtungen verstörten Bub

Zeuge Richard S. hat dagegen eine Vorstellung davon, wann sich Gelegenheiten für den Missbrauch ergeben haben könnten. Auch er war als Acht- oder Neunjähriger Judoschüler von Seisenbacher. Er berichtet, dass er zumindest zweimal bei Gruppenübernachtungen verstörende Beobachtung gemacht habe.

"Es gab komische Situationen, wo ich mich sehr unwohl gefühlt habe", beginnt S. seine Aussage. Einmal habe er bei einem Wochenendkurs in der Nacht Bewegungen im völlig geschlossenen Schlafsack des Angeklagten wahrgenommen, auf die er sich als Kind keinen rechten Reim machen konnte. Am nächsten Morgen "war Herr Peter gut gelaunt", K. habe dagegen Augenringe gehabt und derart schlecht ausgesehen, dass ihre Mutter darauf bestand, dass bei ihr Fieber gemessen werde.

Verteidiger Bernhard Lehofer zweifelt die Aussagen eines Belastungszeugen an.
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"Was hat das mit dem Schlafsack zu tun?", ist der Vorsitzende leicht irritiert ob der ausschweifenden Schilderungen des Zeugen. Es stellt sich heraus, dass S. zwar überzeugt ist, dass die Bewegungen in dem Sack von zwei Personen stammten, erkannt habe er die zweite Person aber nicht. Für Verteidiger Bernhard Lehofer ein gefundenes Fressen. Denn bei seiner Aussage vor der Polizei hatte der Zeuge im Oktober 2014 noch festgehalten: "Ich habe sonst niemanden im Schlafsack des Beschuldigten wahrnehmen können." Er habe damit gemeint, er habe niemanden erkennen können.

Noch deutlicher wird der Zeuge bei einem zweiten Vorfall: Zu diesem sei es bei einem Trainingslager in Seisenbachers Einrichtung im Burgenland gekommen. Er sei in der Nacht aufgewacht und habe K. gesehen, die nur mit einem T-Shirt bekleidet auf dem Rücken lag, über ihr der Angeklagte und über diesem dessen Schlafsack.

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"Wissender Blick" des Neunjährigen

Erzählt habe er davon niemandem, denn "es war ein Mann, der nichts mit Peter zu tun hatte. Ich konnte es niemandem sagen, da es mir niemand glauben würde." Das Problem bei der Aussage: S. interpretiert offenbar viel ex post hinein. Denn, so behauptet er auch, bei einer anderen Gelegenheit habe er als Neunjähriger einen wissenden Blick mit Trainer Seisenbacher gewechselt, dieser habe ihm standgehalten, und beide Seiten hätten gewusst, um was es ginge.

Interessant ist aber auch ein anderer Aspekt der Aussage. Laut der Darstellung von S. habe er als Bub einmal mit einem Teamkollegen über die ihn verstörenden Eindrücke reden wollen. Als Seisenbacher das hörte, habe er ihn als "Träumer" dargestellt. Der Zeuge wird ungewöhnlich emotional: "Das hat er dann immer wieder gesagt. 'Richard, du träumst', auch vor den Eltern!"

Relevant ist diese Bemerkung im Zusammenspiel mit den Erfahrungen einer weiteren Zeugin. Die hatte als 16-Jährige nämlich eine einvernehmliche Beziehung mit Seisenbacher. Das mutmaßliche Opfer K., die mittlerweile ein Mann ist, habe sich damals einmal aufgelöst an sie gewandt. "Weißt Du eh, ich hab auch was mit dem Peter", habe K. gesagt.

"Versuchte, das Ganze ins Lächerliche zu ziehen"

Als sie Seisenbacher damit konfrontierte, habe der gesagt, es störe ihn, dass darüber gesprochen werde. "Hat er sonst was dazu gesagt?", will der Vorsitzende wissen. "Es war nichts." Bei der Polizei hat das noch etwas anders geklungen, hält Bauer der Zeugin vor: "Er versuchte, das Ganze ins Lächerliche zu ziehen. Und dass es höchstens einen Kuss gegeben hat."

Bevor die Öffentlichkeit neuerlich ausgeschlossen wird, bestätigt diese Zeugin auch noch, dass es bei einer Gelegenheit während eines Auslandsaufenthaltes vorgekommen sei, dass der Angeklagte mit zwei Mädchen in einem Bett übernachtet habe, was Seisenbacher bestreitet.

Opfer hätten nicht übertrieben

Vorsitzender Bauer stellt in der Entscheidungsbegründung nochmals klar, dass man keine Anzeichen für eine Verschwörung gefunden habe. Im Gegenteil: "Ich habe ihn ganz einfach gemocht", habe K. bei seiner Aussage klargemacht. Seisenbacher sei "wie ein zweiter Vater" gewesen, und er, K., habe eine Zeitlang gedacht, er nehme das mit ins Grab. Die Opfer hätten nicht übertrieben, ist das Gericht überzeugt.

Seisenbacher, der auf das Urteil keine erkennbare Reaktion zeigt, nimmt sich drei Tage Bedenkzeit, die Staatsanwältin gibt keine Erklärung ab, die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 2.12.2019)