Santiago de Compostela – Die sogenannte Habsburger Unterlippe gilt als eines der bekanntesten Charakteristika der Physiognomie dieser in Europa so einflussreichen österreichischen Herrscherdynastie. Als besondere Kennzeichen werden unter dieser Bezeichnung die vererbte Überentwicklung des Unterkiefers (medizinisch: "echte Progenie") gegenüber einem schwächer ausgeprägten Oberkiefer genannt sowie eine aufgrund dessen besonders prominente, ausladende Unterlippe.

Karl II. (1661–1700), der letzte Herrscher Spaniens aus dem Hause Habsburg, zeigte besonders charakteristische Züge seiner Familie. (Gemälde von Juan Carreño de Miranda (1614-1685).
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Kaiser Rudolf II., hier dargestellt von dem Maler Hans von Aachen (1552-1615), zeigt deutlich den prominenten Unterkiefer vieler Habsburger. Das Gemälde entstand circa 1606/1608.
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Obwohl zeitgenössische Hofmaler angehalten waren, ihre Herrscher so schön wie möglich abzubilden, konnten sie diese buchstäblich hervorragenden Merkmale – manche würden in einzelnen Fällen sagen: Verunstaltungen – praktisch kaum kaschieren, ohne dass die jeweiligen Darstellungen auf Kosten der Ähnlichkeit zur realen Vorlage gingen. Als schöne Menschen galten die Habsburger in vielen Fällen aufgrund dieser Merkmale jedenfalls wohl damals nicht, immerhin kam als zusätzlich hervorstechendes Kennzeichen häufig auch eine Nase mit Höcker und langgezogener Spitze hinzu.

Porträtierte Inzucht

In Anbetracht einiger Porträts kann man sogar von regelrechten Gesichtsdeformationen sprechen. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür bietet Karl II. (1661 –1700), der letzte Habsburgerherrscher Spaniens: Karl war der Überlieferung nach weder körperlich noch geistig der Aufgabe als spanischer Regent gewachsen, er galt letztlich als regierungsunfähig und erhielt den Beinamen "El Hechizado" ("Der Verhexte").

Diese zeitgenössische Büste (1695) von Karl II. stammt von Paul Strudel (1648-1708) und zeigt den Herrscher von seiner besten Seite – die typische Lippe ist dennoch kaum zu übersehen.
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Dass die charakteristischen Gesichter der damaligen Habsburger eine Begleiterscheinung jahrhundertelanger Inzucht sein könnten, wurde schon in einigen Studien thematisiert, aber niemals wirklich belegt. Nun könnte ein Team um Roman Vilas von der Universität von Santiago de Compostela (Spanien) neue Hinweise für diese These gefunden haben: Die Forscher ließen zehn Experten für Gesichtschirurgie 66 zeitgenössische, als authentisch geltende Porträts von 15 Mitgliedern der Habsburgerfamilie vom 15. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts fachgerecht beurteilen.

Kaiser Leopold I. (1640-1705), gemalt von Benjamin von Block (1631-1690). Das Porträt entstand 1672.
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Heiratspolitik mit Folgen

Parallel dazu berechneten die Wissenschafter einen Faktor für das Ausmaß an Inzucht für die 15 untersuchten Habsburger auf Basis eines detaillierten Stammbaums, der rund 6000 Habsburger über 20 Generationen hinweg umfasste. Das Resultat war überraschend eindeutig und ergab einen signifikanten statistischen Zusammenhang zwischen dem Auftreten prominenter Unterkiefer bei den jeweiligen Habsburgern und entsprechenden innerfamiliären Verwandtschaften.

Auch zahlreiche weibliche Mitglieder der Familie besaßen die Habsburger Lippe: Hier ist es Maria Anna von Spanien (1606–1646), gemalt von Diego Velázquez (1599–1660), um 1630.
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Die Wissenschafter geben zwar zu, dass die Merkmalsübereinstimmungen aufgrund der geringen Anzahl an untersuchten Personen theoretisch auch einem Zufall zu verdanken sein könnten, doch das sei eher unwahrscheinlich. Vilas und seine Kollegen sind daher überzeugt: "Wir zeigen zum ersten Mal den klaren Zusammenhang zwischen Inzucht und dem Auftreten der ,Habsburger Unterlippe‘."

Nachdem Inzucht in einigen Weltgegenden nach wie vor ein Problem ist, seien die in den "Annals of Human Biology" präsentierten Schlüsse nicht nur von historischer Bedeutung. "Die Habsburgerdynastie ist eine Art natürliches Labor, das uns die Erforschung ermöglicht, da das Ausmaß an Inzucht hier so unterschiedlich war", sagt Vilas. (tberg, 3.12.2019)