Vieles bleibt verdeckt: Donald Trump hat sich zur Frage des Hirntods der Nato bisher weder in die eine noch in die andere Richtung festgelegt.

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Er wollte die Grundsatzdebatte, er bekam sie auch: Emmanuel Macrons Kritik an der momentanen Verfasstheit der Nato fiel ungewöhnlich unverblümt aus. So sehr, dass die Worte des französischen Präsidenten deutlich nachhallen, wenn die Nato am Dienstag in London ihren 70. Geburtstag begeht. Nichts weniger als den "Hirntod" attestierte Macron dem Militärbündnis im Vorfeld der zweitägigen Tagung in der britischen Hauptstadt.

ORF-Korrespondentin Eva Pöcksteiner erklärt, welche Themen auf der Tagesordnung stehen.
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Im Interview mit dem "Economist" hatte Macron Anfang November die Funktionsfähigkeit der Nato hinterfragt. Interne Koordinierung fände nicht statt, die USA fielen als verlässlicher Partner aus, Europa müsse seine Verteidigung selbst in die Hand nehmen – und könne das aufgrund der starken französischen Streitkräfte auch. Dass Artikel fünf – das Herzstück der Nato, nach dem ein Angriff auf ein Mitglied einem Angriff auf alle gleichkommt – noch Gültigkeit besitze, zog er in Zweifel. Die Kritik traf einen Nerv. Vor allem beim türkischen Präsidenten: Tayyip Erdogan bescheinigte umgehend seinerseits Macron den "Hirntod".

Vom Hirntod zum Brainstorming

Im östlichen Europa, wo die Nato besonders präsent ist, wächst das Unbehagen. Polens Premier Mateusz Morawiecki bezeichnete Macrons Analyse als "gefährlich". Andere räumten ein, dass der Befund im Kern zutreffe, auch wenn die Wortwahl Sprengkraft berge. Am deutlichsten wurde der luxemburgische Außenminister: "Zu 95 Prozent" habe Macron recht, befand Jean Asselborn. Sein deutscher Kollege Heiko Maas sekundierte teilweise: Er wünsche sich mehr sicherheitspolitische Eigenständigkeit für Europa – allerdings innerhalb der Nato.

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Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg gab sich gelassen: Es gebe "Differenzen in einigen Fragen". In der Geschichte der Nato sei das aber weder ein neues noch ein besorgniserregendes Phänomen. Anstrengungen im Verteidigungsbereich begrüßte er, aber nicht als Alternative zur, sondern nur im Rahmen der Nato.

Französische Regierungsmitglieder kalmierten eher halbherzig. Macron sagte, seine drastische Formulierung sei als "nützlicher Weckruf" gemeint gewesen. Inhaltlich allerdings bleibe er bei seiner Kritik. Verteidigungsministerin Florence Parly formuliert es so: "Nun ist die Zeit gekommen, um vom Hirntod zum Brainstorming überzugehen."

Reiche Themenpalette

Und so steht in London eine ganze Reihe von Themen auf dem Programm, überschattet werden sie jedoch von der Diagnose aus Paris. Die Alliierten müssen am 3. und 4. Dezember beweisen, dass die Nato nicht in ihren letzten Zügen liegt, und ihre Wandelbarkeit unter Beweis stellen. Als im Jahr 1949 zwölf Staaten in Washington den Nordatlantik-Pakt unterzeichneten, war die Aufgabe eindeutig: die Eindämmung der sowjetischen Expansion. 2019 zählt das Bündnis mehr als doppelt so viele Mitglieder. Kommendes Jahr soll Nordmazedonien als Nummer 30 dazustoßen.

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Die Alliierten spüren an vielen Stellen ihre Verwundbarkeit. In London beraten sie unter anderem über Chinas militärische Ambitionen, hybride Bedrohungen wie Hackerangriffe, Energieversorgung in Zeiten des Klimawandels, ihre Beziehung zu Russland und die Bedeutung des Weltraums als Operationsgebiet. Die Frage aber, ob Macrons Diagnose stimmt, ob der Ausfall der lebensnotwendigen Funktionen unumkehrbar ist, hängt mit einer anderen Bedrohung zusammen: jener, die von innen ausgeht. Denn das wichtigste Mitglied gilt einigen momentan auch als das gefährlichste. US-Präsident Donald Trump hegt für die Nato wie auch die EU keinerlei Wertschätzung.

Hinwendung nach Asien

Zwar beschwerte sich noch jeder Präsident seit Dwight David Eisenhower in den 1950er-Jahren über die zu niedrigen Militärausgaben der Europäer. Die Priorität in der Außen- und Verteidigungspolitik verschiebt sich ebenfalls nicht erst seit Trump. Dessen Vorgänger Barack Obama beschloss die strategische Hinwendung nach Asien.

Zur Neuausrichtung gehörte auch der schrittweise Rückzug der USA aus dem Nahen Osten. Trump hat ihn besiegelt. Auf seine Entscheidung, den Großteil der US-Streitkräfte aus Syrien abzuziehen, folgte die doppelte Düpierung der Nato: Washingtons Vorgehen war ebenso wenig mit den Partnern abgesprochen wie der Einmarsch des Nato-Mitglieds Türkei. Es ist das Beispiel, das Macron in seiner Fundamentalkritik anführte: "In strategischer und politischer Hinsicht haben wir ein Problem."

US-Präsenz in Europa

Trotz allen Misstrauens: Die Europäer sind weiterhin vom Schutz der USA abhängig. 70 Prozent der Nato-Verteidigungsausgaben steuert immer noch Washington bei. Fällt Großbritannien Brexit-bedingt weg, stammen 80 Prozent davon aus Ländern außerhalb der EU. Neben den USA kommen gerade einmal sechs Staaten dem selbstgesteckten Ziel nach, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung zu verwenden. Stoltenberg hofft, dass auch Rumänien und Bulgarien diesen Wert noch in diesem Jahr erreichen.

"Europa kann sich nicht selbst verteidigen", hielt die deutsche Kanzlerin Angela Merkel kürzlich unmissverständlich fest. Zeitgleich hat Trump die US-Präsenz in Europa sogar verstärkt. An die 70.000 US-Soldaten sind dort stationiert. Ab April kommen für die Nato-Übung "Defender Europe 20" weitere 20.000 hinzu. Das geschieht auch aus Eigeninteresse. Laut der letzten Abschlusserklärung bleibt der Umgang mit Russland neben der Gefahr durch Terrorismus die größte Herausforderung: Die USA möchten Europa nicht in Moskaus Einflusssphäre abgleiten sehen. (Anna Giulia Fink aus London, 3.12.2019)