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Es ist keineswegs so, dass J. R. R. Tolkiens Elben aus Lothlórien das Patent darauf halten, lebende Bäume zu Architektur umzugestalten. Dergleichen wird in unserer Welt schon seit Jahrhunderten, vielleicht sogar seit Jahrtausenden praktiziert. Verschiedene indigene Völker in Süd- und Südostasien haben die Technik entwickelt, die Wurzeln lebender Bäume über Schluchten zu lenken und daraus stabile und gut begehbare Brücken zu formen.

Besonders eindrucksvolle Beispiele dieser Baukunst findet man auf dem nordindischen Meghalaya-Plateau, wo die Völker der Khasi und Jaintia leben. Ihre Heimat ist von zahlreichen Schluchten mit Gebirgsbächen durchschnitten. In den Monsunmonaten werden aus diesen Bächen reißende Ströme, ohne Brücken gäbe es dann kein Weiterkommen. Forscher der Technischen Universität München und der Universität Freiburg haben 74 solcher lebenden Brücken untersucht und den Prozess ihrer Konstruktion analysiert. Über ihre Ergebnisse berichten sie im Fachmagazin "Scientific Reports".

Hintergrund

Diese vom Monsun geprägte Region zeichnet sich durch dichte Laubwälder und eine hohe Feuchtigkeit aus – was herkömmlichen Brückenkonstruktionen stark zusetzt, ob sie nun aus Stahl und Beton oder aus totem Holz angefertigt werden. Lebendes Material hingegen stemmt sich der Zersetzung erfolgreich entgegen.

"Solche stabilen Brücken aus ineinander verschlungenen Wurzeln können mehr als 50 Meter lang und mehrere hundert Jahre alt werden", sagt der Münchner Forscher Ferdinand Ludwig. Er beschäftigt sich schon seit über einem Jahrzehnt mit der Integration von Architektur und Pflanzenanbau respektive -nutzung und hat dafür das Forschungsgebiet der "Baubotanik" begründet.

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Ludwig und seine Kollegen führten Interviews mit den Brückenbauern, um den Bauprozess besser zu verstehen. Um einen Überblick über die komplexe Wurzelstruktur zu gewinnen, machten sie zudem mehrere tausend Fotos und erstellten daraus 3D-Modelle. Darüber hinaus kartierten sie erstmals alle bekannten Brücken.

Und so funktioniert es

Der Baum der Wahl ist Ficus elastica, der Gummibaum. Er gehört zu den Pflanzenarten, die Luftwurzeln ausbilden, also Wurzeln, die gar nicht oder nur an ihrem Ende im Erdboden stecken. Gründe zur Ausbildung solcher Wurzeln gibt es im Pflanzenreich verschiedene: Luftwurzeln können Feuchtigkeit und Nährstoffe aus der Luft aufnehmen oder sie können es einer Pflanze ermöglichen, auf einer anderen Pflanze "aufzusitzen" und an dieser hochzuwachsen. Oder sie können, wenn sie schließlich doch den Boden erreichen, zu einer zusätzlichen Stütze werden.

Diese Stützfunktion machen sich die Khasi und Jaintia zunutze, wie Ludwig und sein Freiburger Kollege Thomas Speck berichten: "Üblicherweise beginnt der Bauprozess mit einer Pflanzung: Wer eine Brücke plant, pflanzt einen Setzling des Ficus elastica an einem Flussufer oder am Rand einer Schlucht ein. Zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Wachstums entwickelt die Pflanze Luftwurzeln", sagt Speck. Die Luftwurzeln werden dann um eine Hilfskonstruktion aus Bambusstangen oder Palmenstämmen geschlungen und horizontal über den Fluss geleitet.

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Wenn die Wurzeln bis ans andere Ufer gewachsen sind, werden sie dort eingepflanzt. Sie entwickeln kleinere Tochterwurzeln, die ebenfalls an das Ufer gelenkt werden, an dem sie eingepflanzt wurden. Durch das stetige Pflanzenwachstum und verschiedene Schlingtechniken bilden die Gummibaumwurzeln hochkomplexe Strukturen, die den Brücken eine große mechanische Stabilität verleihen. Immer wieder werden die neu wachsenden Wurzeln in die bereits bestehende Struktur eingearbeitet.

"Die Wurzeln reagieren auf mechanische Belastungen mit einem sekundären Wurzelwachstum. Außerdem sind die Luftwurzeln zu Verwachsungen fähig: Bei Verletzungen kommt es zur sogenannten Überwallung und Kallusbildung, ein Prozess, den man auch vom Wundverschluss bei Bäumen kennt. So können sich zum Beispiel zwei Wurzeln, die zusammengepresst werden, miteinander verbinden und verwachsen", sagt Speck.

Generationenprojekt

Gebaut und instandgehalten werden die Brücken von Einzelpersonen, Familien oder auch mehreren Dorfgemeinschaften, die die jeweilige Brücke nutzen. "Die lebenden Brücken sind also zum einen eine menschengemachte Technik, zum anderen aber auch eine ganz spezielle Form der Kultivierung einer Pflanze", sagt Speck.

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Und so haltbar diese einzigartigen Bauwerke sind, so viel Geduld erfordert auch ihre Konstruktion. Es sind Generationenprojekte: Bis eine lebende Gummibaum-Brücke fertig ist, vergehen Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. "Die Brücken sind ein einmaliges Beispiel für vorausschauendes Bauen. Davon können wir viel lernen: Wir stehen heute vor Umweltproblemen, die nicht nur uns betreffen, sondern vor allem nachfolgende Generationen. Dieses Thema sollten wir angehen wie die Khasi", sagt Ludwig. (red, 7. 12. 2019)