"Token sind Belohnung und Anreizsystem", sagt Kryptoökonomin Shermin Voshmgir.

Foto: Hutan Vahdani

Blockchain, Bitcoin und Token haben die Welt des Internets tiefgreifend verändert – mehr, als es viele in Europa begreifen. Die Ökonomin Shermin Voshmgir von der WU Wien sieht unzählige Möglichkeiten durch die neue Token-Ökonomie. Sie zwingt Unternehmen aber auch dazu, ihre Aktivitäten zu überdenken.

STANDARD: Bitcoin, Token, digitale Coins – das Kryptouniversum wächst. Was ist das genau?

Voshmgir: Die Leute glauben, vieles von Bitcoin zu wissen. Dabei wissen sie eigentlich relativ wenig, weil Bitcoin oft darauf reduziert wird, dass es ein Spekulationsobjekt ist. Die Medien tendieren dazu, nur auf einen Aspekt von Bitcoin zu reduzieren – nämlich den Token. Aber es gibt drei Aspekte: das Peer-to-Peer-Netzwerk, das den Transfer ermöglicht, das Protokoll, in dem die Netzwerkregeln verbrieft sind, und den Token. Die Transaktionen werden von allen Teilnehmern gemeinschaftlich überprüft. Wird die Transaktion genehmigt, wird sie durchgeführt. In so einem Netzwerk braucht man Vermittler wie Banken nicht mehr.

STANDARD: Was also genau ist Bitcoin?

Voshmgir: Bitcoin ist ein Token, das ist ein technischer Begriff und steht quasi für mein Recht auf einen Wert. Wir managen den Token über eine Software, die Wallet. Das ist eine App, die auf einem Browser oder Device liegt und meinen privaten kryptografischen Schlüssel managt. Bitcoin war das erste Blockchain-Netzwerk. Man kann diese Dinge nicht voneinander trennen. Damit hat die Reise begonnen.

Shermin Voshmgir war zu Gast bei beim Podcast Edition Zukunft, den Sie auch auf iTunes, Spotify und Google abonnieren können.

STANDARD: Was ist das Spannende an diesen neuen Blockchain-Netzwerken?

Voshmgir: Das Spannende ist, dass die Netzwerke eine offene Infrastruktur sind, die jeder verwenden kann. Jeder kann Teilnehmer dieses Netzwerks werden und Bitcoin an jemanden verschicken, und zwar erlaubnisfrei. Man muss sich nicht bei einer zentralen Stelle identifizieren. Jeder kann auch beginnen, Transaktionen zu verifizieren. Bitcoin ist ein Netzwerk von Menschen und Institutionen, die sich nicht kennen und einander nicht vertrauen – jeder kann das Protokoll, die Spielregeln und den aktuellen Stand aller Bitcoin-Transaktionen herunterladen und gemeinschaftlich zum Erhalt der öffentlichen Infrastruktur beitragen. Die Frage ist, wie man sicherstellt, dass in so einem Netzwerk von Menschen, die sich nicht kennen, in verschiedenen Ländern leben und keine Verträge miteinander haben, sich alle richtig verhalten.

STANDARD: Und wie stellt man das sicher?

Voshmgir: Indem ich sie mit dem Token belohne. Das ist die Kryptoökonomie. Es ist ein Anreizmechanismus. Erbringe ich Arbeitsleistung für das System – indem ich Transaktionen überprüfe und das Netzwerk so sicher halte –, werde ich mit dem Token belohnt. Es gibt viele verschiedene Token. Der Token im Bitcoin-Netzwerk heißt Bitcoin. Im Ethereum-Netzwerk heiß er Ether, im Steemit-Netzwerk heißt er Steem. Das ist das Mining. Eigentlich ist das ein missverständlicher Begriff, weil man den Token nicht wirklich schürft. Man erbringt eine Leistung für das System, und dafür wird man belohnt. Das ist wie Bonuspunkte sammeln.

STANDARD: Das klingt verständlich, aber dennoch nach einer Welt, die irgendwo da draußen ist. Wie real ist das in unserer Alltagswelt?

Voshmgir: Das alles ist nicht out of space. Es gibt hunderttausende Netzwerkteilnehmer. Es gibt mehrere Millionen Menschen, die jeden Tag Bitcoin verwenden. Erinnern wir uns zurück: Wie viele Menschen haben 1992 E-Mails geschickt? Wenige. Das heißt aber nicht, dass E-Mails damals noch keine Realität waren. Es war halt noch nicht eine Realität für alle. Wie viele Leute haben 1993 Webseiten verwendet? Die Seiten waren da, aber eben noch nicht für alle. Bitcoin war ja auch nur der Anfang. Dann kam das Ethereum-Netzwerk, das hat es besonders leicht gemacht, dass jeder mit einem Smart Contract auch seinen eigenen Token erstellen kann. Das hat eine Lawine ausgelöst – viele Menschen haben so ihre Token erstellt. Die Medien nennen das oft alles Kryptowährungen. Aber viele dieser Token haben überhaupt keine währungsähnlichen Eigenschaften und repräsentieren oft nur Zugangsrechte oder Güter. Heute gibt es rund 2300 Token, die gehandelt werden können. Und das sind eben nur jene, die handelbar sind. Sie haben eine Marktkapitalisierung von 236 Milliarden Dollar. Das ist noch relativ wenig im Vergleich zur gesamten Weltvolkswirtschaft. Aber dafür, dass es Bitcoin erst seit zehn Jahren gibt und alle Technologien, die daraus gefolgt sind, noch kürzer, ist das schon sehr, sehr viel. Mehr als 225.000 Token-Contracts wurden allein im Ethereum-Netzwerk schon erstellt.

STANDARD: Einst haben wir im Internet nur Seiten besucht, dann kamen Plattformen. Seither benutzen wird das Netz zum Einkaufen, für die Partnersuche, um Freundschaften zu pflegen. Wie lang wird es dauern, bis die Kryptowelt so greifbar ist wie Amazon?

Voshmgir: Das ist alles Realität. Blockchain ist die treibende Kraft hinter dem neuen Internet, das viele Web 3 nennen. Das Internet ist in den 1960er-Jahren entstanden. Da konnten aber erst wenige Leute zugreifen, weil man dafür Programmiersprache beherrschen musste. Erst mit Tim Berners-Lee, der den HTML-Standard erfand, hat sich das geändert. Plötzlich konnte jeder seine eigene Internetseite erstellen. Das war das Web 1: Dann war jeder im Internet, viele wussten aber nicht, was sie dort jetzt tun sollten. Lustigerweise haben viele eine Seite gebaut, da stand dann nur "hello world". Die ersten Webseiten waren Suchmaschinen. Es hat ungefähr zehn Jahre gedauert, bis die Leute herausgefunden haben, was man mit einer Webseite tun kann. So kam Web 2: Die Programmierung wurde einfacher, das Netz mobiler. Es entstanden E-Commerce-Seiten, Wikipedia, soziale Netzwerke. Blockchain ist die Basis für die nächste Generation, Web 3. Das ändert nichts an der Oberfläche – aber es ändert die Datenstruktur im Hintergrund. Es gibt uns einen Mechanismus, wie wir in einem Blockchain-Netzwerk Daten gemeinschaftlich verwalten. Die Hauptanwendung des Web 3 mit der gemeinschaftlichen Datenverwaltung ist der Token. Es hat 25 Jahre vom Anfang des Internets bis zum WWW gedauert, zehn Jahre bis zum Web 2. Wir haben seit zehn Jahren Bitcoin und Blockchain, ich glaube, in den nächsten zwei bis drei Jahren ist das groß.

STANDARD: Gibt es ein Anwendungsbeispiel für all das?

Voshmgir: Ja, Steemit. Das ist ein soziales Netzwerk, vergleichbar mit Facebook, aber dezentral organisiert. Steemit hat eine Million User und läuft eben nicht auf einem Server, sondern wird von einem Netzwerk von Computern verwaltet, der Steem-Blockchain. Jeder kann bei Steemit User werden, Posts hochladen. Wird ein Beitrag gelikt, kann man für diesen Beitrag Steem-Token verdienen, und die Person, die den Beitrag gelikt hat, kann für das Kuratieren Token verdienen. Wir verbringen alle viel Zeit auf Plattformen wie Facebook oder Youtube. Aber wir haben keine Ahnung, was dort mit unseren Daten passiert. Wir verkaufen unsere Daten, bekommen aber nichts dafür, außer dass ich das Netzwerk verwenden kann. Es stellt sich die Frage, ob Kosten und Nutzen in Relation stehen.

STANDARD: Was bedeutet das gemeinschaftliche Verwalten von Daten? Das klingt danach, dass ich plötzlich eine Aufgabe habe und dauernd etwas überwachen muss ...

Voshmgir: Nein, so ist es nicht. In einem Bankennetzwerk etwa verwalten die am Netzwerk teilnehmenden Banken die Daten gemeinschaftlich, und der Nutzer kann die Banken-Blockchain verwenden. Die Frage, wer das Netzwerk verwaltet, ist eine andere, als wer es verwenden darf. Im Bitcoin-Netzwerk ist es so, dass jeder alles tun darf. In privaten Netzwerken dürfen nur die verifizieren, die Teil des Konsortiums sind.

STANDARD: Was mache ich mit all diesen Token?

Voshmgir: Die kann ich auf einer öffentlichen Plattform gegen Euro tauschen und damit etwa meine Miete bezahlen. Es gibt Menschen, die das bereits tun. So, wie man Dollar in Euro umwandelt, können auch Token umgetauscht werden.

STANDARD: Und das ist die Token-Ökonomie?

Voshmgir: Genau. Ein anderes Beispiel ist ein Projekt der Stadt Wien. Sie plant, Menschen, die sich CO2-freundlich verhalten haben, mit einem Kultur-Token zu belohnen, mit dem sie etwa günstiger ins Museum können. Es gibt auch den Basic-Attention-Token, der wurde für die Werbeindustrie designt. Hier geht es um die Belohnung von Aufmerksamkeit. Wer auf einer Webseite eine Werbung anklickt, wird belohnt mit einem Token, weil die Werbung konsumiert wurde. Einen Teil bekommt der Publisher, aber das meiste bleibt bei mir. Der Punkt ist, dass ich für meine Leistung des Werbungsansehens persönlich belohnt werde. Token können verschiedene Funktionen haben. Man kann bestehende Werte tokenisieren. Das ist wie eine Aktie, die besagt, dass ich Anteile an einem Unternehmen habe. Ich kann den Wert eines Picasso verbriefen und via Token aufteilen. Mit dem Vorteil, dass der Anteil leichter transferierbar ist.

STANDARD: Ist Facebook mit Libra ein Gamechanger?

Voshmgir: Ja. Facebook ist ein Privatunternehmen, das im Web 2 groß geworden ist und nur damit Geld verdient, dass es Daten seiner Nutzer besitzt und verkauft. Das kann es nicht mehr tun im auf dem Blockchain-Netzwerk basierenden Web 3, weil ihm die Daten dann nicht mehr gehören. Libra soll ein Zahlungstoken werden mit stabilem Wert. Verwaltet wird der Token von einem von Facebook angeführten Konsortium. Facebook macht hier Nationalstaaten Konkurrenz. Mit 2,4 Milliarden Nutzern wäre Libra größer als das Wirtschaftssystem Chinas (1,4 Milliarden Einwohner, Anm.). Das bedeutet Libra. Eine Veränderung des bisherigen Spiels. Facebook hat bisher nur den Payment-Token angekündigt. Aber die sehen auch, was Steemit ist, und den Basic-Attention-Token – das untergräbt ihr Geschäftsmodell. Die Ankündigung von Facebook zeigt, dass Web 3 salonfähig ist.

STANDARD: Wie komme ich zu Libra?

Voshmgir: So, wie man zu anderen Währungen kommt. Man kauft oder tauscht sie. Wir erfinden nicht das Rad neu. Das Neue ist, dass es einen digitalen Repräsentanten gibt für alle Werte und Zugangsrechte der realen Welt. (Bettina Pfluger, Portfolio, 6.1.2020)