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Nach einigen eher ernüchternden Begegnungen mit chinesischer Science Fiction darf ich nun verkünden: endlich mal wieder ein Treffer! Der noch junge Autor Qiufan Chen hat hier ein beachtliches Romandebüt hingelegt, das vor allem denen gefallen sollte, die SF im Stil von Paolo Bacigalupi schätzen. "Die Siliziuminsel" ist sehr geschickt in einer nicht exakt datierten Zukunft angesiedelt – nah genug, um die (Umwelt-)Probleme unserer Gegenwart widerzuspiegeln, und fern genug, um die bedrohliche Möglichkeit einer technologischen Singularität an die Wand zu malen.

Der Ort

Der titelgebende Romanschauplatz, eine namentlich nie genannte Insel vor der chinesischen Südküste, ist einer der vielen Orte auf der Welt, an denen die globale Konsumgesellschaft ihre Kehrseite entleert. Per Schiff werden hier unzählige Tonnen an Elektroschrott angelandet, um ihn in mühevoller händischer Kleinarbeit dem Recycling zuzuführen. Erledigt wird diese ebenso gesundheitsschädliche wie schlecht bezahlte Arbeit von den Müllmenschen: Wanderarbeitern, die aus ganz China auf die Insel gekommen sind. Von den gebürtigen Insulanern, die unter der inoffiziellen Herrschaft dreier Clans stehen, werden sie verachtet und ausgebeutet.

Die soziale Misere wird allerdings von der ökologischen noch übertroffen, denn das jahrzehntelange Hantieren mit Müll hat die Insel vollkommen vergiftet: Die Frauen wuschen ihre Wäsche mit bloßen Händen im schwarzen Wasser. Der Teppich aus Entengrütze, der darauf schwamm, war von silbernen Seifenblasen gesäumt. Überall spielten Kinder: Sie rannten am schwarzen Ufer entlang, das von Glasfasern und verkohlten Leiterplatten funkelte, sprangen über die glühende Asche der Plastikreste, die auf den Feldern schwelten, und schwammen und planschten in den dunkelgrünen Teichen, auf denen Polyesterfolien trieben.

Die Protagonisten

An diesem Ort, der seine Vergangenheit aufgegeben hat, treffen nun drei Perspektivfiguren aufeinander, die ihrerseits entwurzelt sind. Einer davon ist ein "Westler": Scott Brandle reist im Auftrag eines US-Konzerns an, der das Recycling-System der Insel effizienter und umweltfreundlicher gestalten will. Doch wie in Bacigalupis modernem Klassiker "The Windup Girl", zu dem "Die Siliziuminsel" einige Parallelen aufweist, steckt hinter diesem vordergründigen Auftrag noch mehr – sogar mehr, als Scott selbst ahnt.

Um mit den herrschenden Clans verhandeln zu können, wurde Scott der Dolmetscher Chen Kaizong mitgeschickt. Ursprünglich selbst auf der Siliziuminsel geboren, ist er noch im Kindesalter mit seiner Familie in die USA übersiedelt und hat sich seitdem nirgendwo mehr so richtig zuhause gefühlt; das ändert sich auch nicht mit der Rückkehr in seine "Heimat".

Die dritte und insgesamt wichtigste Figur schließlich heißt schlicht Mimi. Sie stammt aus einem Dorf irgendwo im Nirgendwo Chinas und ist eine von den Millionen, die von ihren Familien in die Fremde geschickt wurden, um Geld zu verdienen. Verschlagen hat es sie schließlich auf die Siliziuminsel, wo sie das Arbeiterleben von seiner scheußlichsten Seite kennengelernt hat. Doch der Autor hat noch Großes mit ihr vor: Wie schon Maria in Fritz Langs "Metropolis" oder D'joan in Cordwainer Smiths "The Dead Lady of Clown Town" wird auch hier eine Frau zur übernatürlichen Gestalt und zum Katalysator eines gesellschaftlichen Umbruchs mit ungewissem Ausgang werden.

Von der Realität zur Fiktion

Unzählige Werkstätten, jede kaum mehr als eine Hütte, säumten dicht an dicht wie Mah-Jongg-Steine die Straßen. Dazwischen waren nur schmale Wege freigelassen, damit die Müllwagen ihre Ladung abliefern konnten. Überall lagen Metallgehäuse, kaputte Displays, Leiterplatten, Plastikteile und Drähte verstreut wie Kothaufen, und dazwischen schwirrten die auswärtigen Arbeiter umher wie Fliegen, durchstöberten den Schrott und warfen alle Teile von Wert in Öfen oder Säurebecken, um sie zu zersetzen und Kupfer und Zinn oder kostbare, seltene Metalle wie Gold oder Platin zu gewinnen. (...) Niemand trug irgendwelche Schutzkleidung. Alles war in einen bleiernen Dunst gehüllt. Der weiße Dampf, der von dem erhitzten Königswasser in den Säurebädern aufstieg, vermischte sich mit der schwarzen Asche von dem PVC, dem Isolierdraht und den Leiterplatten, die ohne Unterlass auf den Feldern und an den Ufern des Flusses brannten.

Diese Passage kommt zweimal im Buch vor: Beim ersten Mal im Fließtext, wenn sie die Verhältnisse auf der Siliziuminsel beschreibt – und dann noch einmal im Nachwort, in dem Qiufan Chen seine Inspiration offenlegt. Mit diesen Worten beschreibt er nämlich das, was er in der Kleinstadt Guiyu vorgefunden hat, dem höchst realen Vorbild seiner Insel (beziehungsweise einem von vielen). Es ist diese Verankerung in der Wirklichkeit, die sein Zukunftsszenario auf ein solides Fundament stellt.

Die neue Realität

Darauf aufbauend kann sich dann sukzessive die Fantasie entfalten. In der Romanwelt sind Hightech-Prothesen und andere körperliche "Verbesserungen" das neue Ding. Der daraus entspringende Müll sorgt immer wieder für eindringliche Bilder: Da stehen wir etwa angeekelt vor einem Berg menschlicher Ersatzteile in trügerisch gesundem Rosa oder sehen einem Buben zu, wie er anstatt eines Modellautos eine noch bewegungsfähige Armprothese über die Straße krabbeln lässt. Und mehrfach lesen wir, wie Menschen auf bizarre Weise durch Technoschrott zu Tode kommen (vor gelegentlichen Gore-Elementen schreckt der Autor keineswegs zurück).

Von dieser neuen Normalität schraubt sich die Handlung schließlich noch einmal eine Ebene weiter, als Mimi ungewollt zum Prototypen einer ganz neuen Mensch-Maschine-Symbiose wird. Das mag dann – auch wenn der Vergleich mit William Gibson auf der Buchrückseite summa summarum nicht gerechtfertigt ist – gewisse Anklänge an Cyberpunk haben. Wichtiger ist aber doch das beliebte Gruselmotiv von der Singularität durch eine nicht mehr kontrollierbare technologische Entwicklung. Nahtlos vom nur allzu Realen zum Fantastischen zu gelangen, war schon immer ein Merkmal guter Science Fiction.

Unterm Strich

Die aktuelle China-Euphorie in der SF ist bei mir ja mittlerweile einer gewissen Ernüchterung gewichen. Cixin Liu ist ganz eindeutig kein Garant für beständige Qualität (Oh Gott, "Weltenzerstörer" ...!), und Hao Jingfang hat mich zwar mit "Peking falten" begeistert, allerdings mit "Wandernde Himmel" auch so intensiv gelangweilt, wie es bislang nur Kim Stanley Robinson in seinen prätentiösesten Momenten vermochte.

Um ein umfassenderes Bild der chinesischen SF zu gewinnen, könnte man sich ja vielleicht englischsprachige Sammlungen wie "Broken Stars" anschauen, die der rührige Ken Liu übersetzt und herausgibt. – Andererseits: Warum soll ich auf Krampf einen Trend bestätigen wollen? Was ist mit SF aus Indien, Italien, Brasilien oder Japan, verdient die kein genaueres Augenmerk? Darum: Hype, nein danke. Aber gute Bücher, ja bitte! Und das hier ist eines.