Neben unverhältnismäßiger Gewaltanwendung und dem unzureichenden Schutz der Versammlungsfreiheit kritisiert die NGO, dass ein Rucksack durchsucht und zerstört worden sein soll.

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Die Wiener Polizei verletzte die Menschenrechte von Demonstranten – zu dem Schluss kommt Amnesty International (AI) in einem aktuellen Bericht über Polizeigewalt im Rahmen einer Sitzblockade Ende Mai an der Urania in Wien. Die NGO, die sich weltweit für Menschenrechte einsetzt, analysierte die Vorfälle, sprach mit Teilnehmern der Demo, deren Anwälten, Zuschauern und mit Innenminister Wolfgang Peschorn.

Die Ergebnisse der Analyse zeichnen ein Bild von strukturellen Mängeln bei der Polizei und in ihrem Vorgehen. So ist die Rede von "zum Teil äußerst gravierenden gewaltsamen Vorfällen" und von "unverhältnismäßigen Eingriffen in Menschenrechte", außerdem fanden "unverhältnismäßige Maßnahmen von Befehls- und Zwangsgewalt" statt.

Ende Mai 2019 demonstrierten etwa 100 Menschen gegen Verkehrsbelastung.
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Überforderung und Erschöpfung könnte der Grund für das Verhalten der Polizei sein, so Patzelt von Amnesty International.
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"Es wurde offensichtlich zu Mitteln gegriffen, die bei einer Gewaltsituation gerechtfertigt wären, aber nicht bei Leuten, die auf der Straße sitzen", sagt Heinz Patzelt, Jurist und Generalsekretär von AI Österreich im Gespräch mit dem STANDARD. Er führt die unverhältnismäßige Gewalt auf Erschöpfung und Überforderung der Polizei und auf ein "falsches Mindset" des Einsatzleiters zurück.

Schwere Verletzungen

Was ist konkret passiert? Am 31. Mai 2019 blockierten rund 100 Demonstranten unangemeldet den Franz-Josefs-Kai, doppelt so viele Polizisten waren im Einsatz. Auf einem Video von dem Tag ist zu sehen, wie ein Mann am Boden fixiert wird, während ein Beamter auf ihn einschlägt und im Hintergrund jemand wiederholt "In die Nieren!" ruft. Eine andere Aufnahme zeigt, wie Anselm Schindler, nach eigenen Angaben nur Zuseher bei der Demo, mit dem Kopf unter einem Polizeibus festgehalten wird, Beamte reißen ihn gerade rechtzeitig unter dem Bus hervor, als der startet. Im AI-Bericht spricht Schindler von Todesangst und extremer Panik. Ein anderer Mann berichtet, dass ihm eine Polizeikraft auf den Boden drückte, ihm in die Hoden schlug und mit geballter Faust auf die Kehle drückte. Ein weiterer Demonstrant soll laut Bericht eine Rissquetschwunde an der Stirn erlitten haben, nachdem eine Polizeikraft ihn mit dem Knie im Gesicht fixiert haben soll, einer weiteren Person soll der Mittelhandknochen gebrochen worden sein.

AI kritisiert nicht nur die "unzulässige Zwangsgewalt", sondern unter anderem auch, dass Schindler ohne gesetzliche Grundlage 14 Stunden inhaftiert worden sein soll, dass Leute zur Abgabe von DNA-Proben gezwungen worden sein sollen und dass Beamte ihre Dienstnummern nicht herausgegeben hätten.

Kaum Konsequenzen

Seitdem liefen mehrere Verfahren an: Die Staatsanwaltschaft Wien ermittelt gegen zumindest sieben Polizeibeamte und Betroffene erhoben Maßnahmenbeschwerde beim Verwaltungsgericht Wien. Ebenjenes entschied bereits, dass die Abnahme der DNA-Proben rechtswidrig war.

Die Polizei Wien versetzte einen Mitarbeiter in den Innendienst – ob er dort noch ist, will sie auf STANDARD-Anfrage nicht beantworten. Die Polizei stoppte ihre interne Evaluierung unter Verweis auf laufende Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Mit Stand August zumindest waren noch keine der involvierten Beamten vorläufig suspendiert worden, es wurden auch keine Disziplinarverfahren eingeleitet.

AI wiederholen bei dieser Gelegenheit die schon oft – auch von Experten – formulierte Forderung nach einer unabhängigen Untersuchungskommission, die Fälle mutmaßlicher Polizeigewalt untersuchen soll. Bisher nämlich geschieht dies polizeiintern. In Wien wurden im vergangenen Jahr 251 Fälle von Misshandlungsvorwürfen bekannt. Es kam zu keinem Disziplinarverfahren. (Gabriele Scherndl, 4.12.2019)