Fotograf Jethro Marshall hat ein von Hackett gefertigtes, kariertes Dinner-Jacket im Windsor-Stil inszeniert.

Foto: Hackett / Jethro Marshall

Es riecht nach Holz und frischer Farbe, man hört Lärm von Bohrmaschinen und Hämmern, überall stehen Kisten herum, die Hälfte einer Wand ist noch nicht tapeziert, auf dem Boden ist Schutzfolie ausgelegt, es herrscht geschäftiges Treiben. Arbeiter, die Unrat aus dem Gebäude schaffen, drängen sich an Lieferanten vorbei, die Champagnerflaschen und Gläser hineinschleppen.

Wo jetzt noch Baustellenchaos herrscht, sollen in wenigen Stunden 600 Gäste empfangen werden: Jeremy Hackett eröffnet seinen ersten Shop in der Savile Row Nr. 14 in London. Hier residierte zuvor Sir Hardy Amies, der wahrscheinlich populärste Schneider von Königin Elisabeth II. Es gibt wohl keine passendere Adresse für das britische Traditionsunternehmen für Herrenbekleidung, sie ist Synonym für textiles Handwerk. Seit dem 17. Jahrhundert lassen sich hier die besten Schneidermeister nieder.

Jeremy Hackett und sein Team haben rechtzeitig zum Beginn der Eröffnungsparty geschafft, dass alles in dem mehrstöckigen Gebäude an seinem Platz steht. "Ich freue mich, nach 40 Jahren wieder in der Savile Row zurück zu sein. Vor allem als Besitzer und nicht als Verkäufer", scherzt Hackett, der in seiner Jugend ein paar Hausnummern weiter für einen Schneider gearbeitet hat. Mittlerweile führt er ein international agierendes Unternehmen.

Die Eröffnung des Flagship-Stores in bester Lage zeigt: Die Geschäfte laufen gut. Den Großteil des Umsatzes mache zwar die Konfektionsware aus, erklärt Jeremy Hackett, aber die Maßschneiderei sei ein wichtiger Wachstumsmarkt für das Unternehmen.

Seit 1979 betreibt der Brite Jeremy Hackett sein Unternehmen für Herrenbekleidung.
Foto: Hackett

In Zeiten von Nachhaltigkeitsdebatten, modischer Individualisierung und immer lockererer Dresscodes kann man sich mit maßgefertigter Kleidung von Fast Fashion abgrenzen und die Zugehörigkeit zu einem privilegierten Milieu, das Wert auf Qualität legt, suggerieren. Ob hochpreisiges Bespoke oder günstigeres Made-to-Measure (siehe Glossar unten) – die Maßschneiderei floriert.

Großes Potenzial

Auch Prashant Motwani, Chief Development Officer der belgischen Unternehmens Senszio und Sohn des Firmengründers, sieht in der Maßschneiderei ein riesiges Geschäftspotenzial. "Der Markt ist in den letzten fünf bis zehn Jahren kontinuierlich gewachsen und noch lange nicht gesättigt." Seit kurzem bietet Senszio seine Travelling-Tailor-Dienste auch in Wien an.

Einer der reisenden Schneider ist alle vier Wochen vor Ort, Kunden können online Termine buchen. Die Treffen finden je nach Wunsch in einem Hotelzimmer, im Büro oder zu Hause beim Kunden statt. Dort nimmt der Schneider Maße, schlägt Stoffe und Knöpfe vor. Made-to-Measure-Stücke sind nach vier Wochen fertig, im Bespoke-Bereich dauert der Prozess mehrere Monate.

An manchen Standorten unterhält Senszio fix stationierte Schneider, aber "wir werden auch das Konzept der Travelling Tailors beibehalten. Kunden schätzen, dass extra jemand zu ihnen kommt und sie nicht in einen anonymen Shop müssen", erklärt Motwani den Erfolg des Verkaufsmodells.

Das Angebot beim belgischen Travelling-Tailor Senszio umfasst Hemden und mehrteilige Anzüge.
Foto: Senszio

Von anonym kann kaum die Rede sein, wenn man das Geschäft von Rudolf Niedersüß betritt. Seit 1976 führt er die erste Adresse Wiens in Sachen Herrenschneiderei, die Firma Knize. Möbel und Vertäfelungen in dunklem Holz mit charmanter Patina, Stofftapeten, Teppich in Moosgrün und knarzende Bodendielen – die Räumlichkeiten am Wiener Graben, von Architekt Adolf Loos 1910 bis 1913 gestaltet, vermitteln die lange Tradition des Schneiderbetriebs.

An den Wänden hängen jede Menge Hofschneiderdekrete. Der internationale Adel zählte damals wie heute zur Knize-Klientel. Neukunden für Maßanfertigungen kann der Schneidermeister seit Jahren keine mehr aufnehmen.

"An der Nachfrage hapert es nicht, eher an den Arbeitskräften" sagt der 84-Jährige. Die jungen Leute seien heute nicht mehr bereit, Leistung zu erbringen. Er habe in den letzten Jahren immer wieder versucht, Lehrlinge auszubilden, musste aber allen frühzeitig kündigen, weil sie seinen Ansprüchen nicht genügten.

Die historischen Geschäftsräume bei Knize wurden von Adolf Loos gestaltet.
Foto: Knize

Laut Auskünften der WKO ist die Zahl der Lehrabschlussprüfungen in Österreich im Bereich der Bekleidungsgestaltung, wie die Schneiderausbildung offiziell heißt, seit Jahren konstant. 117 wurden im vergangenen Jahr absolviert.

Die Zahl der Berufszweigmitglieder steigt demnach kontinuierlich. Waren es 2010 noch 1119, so sind es 2019 bereits 1670. Eine Umfrage der WKO bei mehreren Landesinnungsmeistern ergab eine erhöhte Nachfrage nach Produkten der Herrenkleidermacher. Das führt dazu, dass auch immer mehr Damenkleidermacher zusätzlich Leistungen für Männer anbieten oder Weiterbildungsangebote in diesem Bereich wahrnehmen.

Hochwertige Stücke

Wilfried Mayer arbeitet in Wien, wo er klassische Herrenbekleidung anbietet. Der Absolvent der Modeklasse der Wiener Universität für angewandte Kunst hat sich die handwerklichen Fähigkeiten autodidaktisch angeeignet. "Ich habe zwar keinen Meisterbrief, aber Schnitt- und Produktentwicklung beherrsche ich" sagt der Designer, der sich als Schnittstelle zwischen Kunde und Produktion versteht.

Die Zusammenarbeit mit Lieferanten sei für Einpersonenunternehmen nicht immer einfach. Produzenten bevorzugten oft größere Firmen, weil diese bessere Kapazitätsauslastung garantierten und die hohen Mindestmengen leichter erfüllen. Trotzdem hält Mayer an seiner One-Man-Show fest: "Ich bin mein eigener Herr, und die Nähe zu den Kunden ermöglicht es mir, flexibel auf ihre Bedürfnisse einzugehen".

Maßanfertigungen, sowohl Made-to-Measure als auch Bespoke, sind seine Antwort auf Fast Fashion und saisonales Kollektionsdenken. Er will hochwertige Stücke verkaufen, die seine Kunden über einen langen Zeitraum begleiten. Ökologische Nachhaltigkeit war jedoch nie eine dezidierte Prämisse in seinem Unternehmen. Sie ergebe sich von selbst, so Mayer. So kauft er Stoffe unter anderem aus Altbeständen lokaler Herrenausstatter und Stoffanbieter, die Produktionswege sind kurz.

Langlebigkeit

Auch Jeremy Hackett lebt den Nachhaltigkeitsgedanken. In jungen Jahren betrieb er bereits Secondhandläden, auch heute noch setzt er auf Langlebigkeit durch hohe Qualität. Hergestellt werden die Maßanfertigungen in Großbritannien.

Senszio hingegen lässt in Asien produzieren. Prashant Motwani ist Transparenz wichtig: "Wir betreiben eigene Workshops, die Schnittmacher vor Ort wurden von italienischen Herrenschneidern ausgebildet, und wir arbeiten schon seit über 30 Jahren mit ihnen zusammen. ‚Made in China‘ hat ein schlechtes Image, aber unsere Sakkos sind beispielsweise Full Canvas und nicht geklebt (siehe Glossar). Mit der Qualität kann manch europäischer Produzent nicht mithalten."

Extreme Qualitätsunterschiede am Markt nimmt auch Rudolf Niedersüß wahr: "Was sich so alles Maßhemd oder -anzug nennt, hat mit dem Handwerk nichts zu tun. Es gibt Angebote in allen Preissegmenten, aber man sieht den Unterschied." Ein Anzug von Knize kostet schon mal 8000 Euro, bei Hackett fallen mindestens 5500 Euro an, und bei Wilfried Mayer oder Senszio ist ein Bespoke-Zweiteiler ab circa 1500 bzw. 1249 Euro zu haben.

Auch große Bekleidungsketten mischen mittlerweile mit. Peek & Cloppenburg bietet keine Bespoke-, aber Maßkonfektionsanzüge in Half Canvas. Diese liegen preislich zwischen 499 und 999 Euro.

Leise Rebellion

Zur Vermittlung eines hohen gesellschaftlichen Standes sei Maßkleidung nicht geeignet. "Dazu ist sie zu zurückhaltend und unauffällig. Menschen, die ihren Reichtum zeigen wollen, kaufen eher Konfektionskleidung von Luxuslabels. Maßanfertigungen sind für jene, die ein Verständnis für Stil und Qualität haben", sagt Jeremy Hackett.

Der klassische Gentlemen’s Style kann sogar subversives Potenzial haben. Hackett versteht ihn als Rebellion vieler Söhne gegen ihre Väter, die sich zurzeit bemüht leger kleiden, um jugendlich zu wirken. Auch für Wilfried Mayer ist ein Maßanzug nicht zwangsweise konservativ konnotiert. Mit einem solchen Stück löse man sich von Körperkonventionen, die durch Konfektionsware festgeschrieben würden.

In der Savile Row gab es bei der Eröffnungsparty übrigens keinen speziellen Dresscode. Die Gäste erschienen selbstverständlich in feinstem Zwirn, die Outfits der anderen Gentlemen wurden ganz genau beäugt. Bei aller noblen Zurückhaltung: Die Welt der Herrenschneiderei ist nicht gefeit vor Statusdenken. (Michael Steingruber, RONDO, 9.12.2019)